Leitfaden China
nicht in sie hineingewachsen ist, enorme Mühe. Ich erinnere mich noch an einen Journalisten, immerhin einen Mann anfangs der Vierzig, der mich in Hong Kong im Büro besuchen kam und mir gestand, er könne in der Stadt kaum zwei Stunden auf der Strasse sein, dann müsse er zurück ins Hotelzimmer oder mindestens in ein Kaffee-oder Teehaus gehen, weil er diesen Lärm, dieses Durcheinander, dieses ständige Bewegen oder gar Drängen verbunden mit der Temperatur und der hohen Luftfeuchtigkeit physisch einfach nicht länger aushalte.
Es ist sicher zu erwarten, dass namentlich Entscheiden und Handeln in dieser anderskulturellen Umgebung einen beträchtlichen Druck ausüben. Die Wichtigkeit der Lebensqualität für entsandte westliche Führungskräfte wird deshalb nicht nur von europäischen, sondern auch von chinesischen Personen unterstrichen, welche längere Zeit im Ausland waren und europäische oder amerikanische Verhältnisse kennen. Auch chinesische Manager meinten beispielsweise, dass sich Europäer nicht sehr leicht an ein chinesisches Umfeld mit seinen sozialen Dichten gewöhnen können und deshalb gut daran tun, in einer relativ grosszügigen Wohnumgebung zu leben.
Lebensstil
Unter diesen Verhältnissen ist zu erwarten, dass auch der Lebensstil beträchtlich anders sein wird als in einer westlichen Umgebung. Eine westliche Gesellschaft unterscheidet viel deutlicher zwischen Arbeit und Freizeit. Nach hundertfünfzig Jahren Industrialisierung und Arbeiterbewegung erledigt der westliche Mensch nach Feierabend nur noch ungern arbeitsbezogene Aufgaben. Von allen Chinesen, welche auf die Arbeits-/Lebens-Balance angesprochen wurden, sind die Vorteile der westlichen Haltung unterstrichen worden. «Das Leben in China ist Arbeit, in Europa ist es auch Vergnügen», drückte dies eine chinesische Mitarbeiterin aus. Manche chinesischen Unternehmer weisen allerdings auch auf die negativen Seiten der westlichen Haltung hin und unterstreichen, dass man China im Vergleich zum Ausland noch bereit ist, hart und diszipliniert zu arbeiten.
Ich wage zu sagen, dass in China heute vor allem das Erreichen einer guten materiellen Grundlage eines der Hauptziele jeder Arbeit ist. Deshalb spielen die finanziellen Entschädigungen für Arbeitsleistungen in der Regel eine wesentlich motivierendere Rolle als in einer westlichen Gesellschaft. Dies wird offiziell oft auf Entwicklungsunterschiede zwischen China und Europa zurückgeführt. Zur Erklärung dieses Unterschieds wird dann die Bedürfnispyramide von Maslow herangezogen. Maslows Pyramide zeigt auf, dass zuerst die sozialen und materiellen Grundbedürfnisse gesichert sein müssen, bevor sich der Mensch mehr philosophischen und geistigen Inhalte in seinem Leben zuwendet.
Andererseits hat auch die Globalisierung einen Einfluss auf den chinesischen Lebensstil. Man beginnt sich an westliche Formen zu gewöhnen. Kaffee ist heute gerade für die jüngere Generation durchaus eine Alternative zum Tee geworden, Autos, Modeartikel und Reisen haben sich zu normalen Konsumprodukten entwickelt, die sich eine immer breitere Schicht nicht nur leisten kann, sondern sich tatsächlich auch leistet. Dies ist in der jüngeren Generation teilweise zum Problem geworden, indem Konsumkredite die Einkommen und das Sparvermögen zu übersteigen beginnen. In der Gruppe der Luxusgüterkonsumenten dominieren Markenmode, Kosmetika oder Körperpflegeprodukte. Die Produkte haben bei dieser Gruppe einen wesentlich grösseren psychischen als ökonomischen Wert. Der durch die Wirtschaftsentwicklung entstandene Gruppendruck tut sein Übriges, um die Spirale dieses Luxuskonsums weiter anzutreiben.
Wichtigkeit der Familie
Auch die Unterschiede in der Wichtigkeit der Familie für Gesellschaft und Familienmitglieder wird in allgemeinen von entsandten Personen schnell festgestellt. Viele Ausländerinnen und Ausländer weisen auf den grösseren Stellenwert einer chinesischen verglichen mit einer mitteleuropäischen Familie hin. Zurückgeführt wird dies oft auf das konfuzianische Erbe. Interessanterweise erwähnten hingegen manche chinesische Personen, dass die Familie in ihren Augen in Europa wichtiger sei als in China. Wie das Modell im ersten Kapitel zeigt, geht die Annahme wohl darauf zurück, dass der Umgang unter Familienmitgliedern in Europa in der Regel höflicher und rücksichtsvoller ist als in einer chinesischen Familie. Der Familienbegriff umfasst somit in einer mitteleuropäischen und einer chinesischen
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