Lemberger Leiche
hat, bis du von der Dienstreise zurück bist. Tut mir leid, wenn es ihr ohne Tochter langweilig geworden ist.«
»Oh, das war kein Problem«, log Irma und wurde nicht mal rot dabei. »Sie hatte ja den Killesberg-Park vor der Haustür, da konnte sie spazieren gehen und so richtig ausspannen.«
»Also, beste Grüße von mir«, sagte Schmoll. »Macht euch einen schönen Nachmittag.«
Irma wollte sich heute nicht unnötig anstrengen und schob ihr Fahrrad vom Feuerbacher Eingang aus den Parkhinauf. Auf Höhe des Kinderspielplatzes beschloss sie, sich auf einer Bank zu entspannen, bevor sie sich in die Diskussionen mit ihrer Mutter stürzen musste. Kaum saß sie, da klingelte ihr Handy. Helene lud sie zum Abendessen ein. Line sei auch da und habe ihr schon über die gefährlichen Abenteuer auf Mallorca Bericht erstattet.
»Das müssen wir doch feiern, dass ihr beide wieder heil daheim seid!«
»Vielen Dank für die Einladung, Helene. Aber meine Mutter ist zu Besuch.«
»Ist sie schon aus Baden-Baden zurück? Sie wollte doch drei Wochen bleiben. Oder?«
»Sie ist bereits einen Tag, nachdem ich nach Mallorca geflogen war, zurückgekommen. Ihr Urlaub hat nicht mal eine Woche gedauert.«
»Na, so was!? Wieso denn? Sie hat sich doch nicht mit ihrem netten Verehrer verkracht?«
»Das hast du richtig erraten, Miss Marple«, sagte Irma. »Verkracht und noch Schlimmeres.«
»Das klingt, als bräuchtest du einen Blitzableiter für seelische Kümmernisse«, stellte Helene fest. »Wo bist du denn gerade?«
»Auf dem Heimweg. Schmoll hat mir heute Nachmittag großzügig freigegeben. Ich habe soeben mein Fahrrad neben einer Bank geparkt und sitze nun im Schatten einer Akazie, oder vielleicht ist es auch eine Robinie.«
»Das ist fast das Gleiche«, versicherte Helene. »Dann bleib mal hübsch sitzen und erzähle.«
Irma war froh, jemandem ihr Leid klagen zu können, und tat es ausführlich. Helene hörte zu, ohne sie ein einziges Mal zu unterbrechen.
»Nun weißt du Bescheid, Helene. Ich werde ab jetzt sparen müssen, damit ich Herrn Jansen das Geld zurückzahlen kann.«
»Kokolores!«, sagte Helene. »Vielleicht will er es gar nicht wiederhaben.«
»Er wird es von mir zurückbekommen, ob er’s will oder nicht«, sagte Irma. »Ich muss mir nachher Mam noch mal vorknöpfen.«
»Tu das«, sagte Helene. »Und dann rufst du den Herrn an und fragst, ob er Ratenzahlung akzeptiert.«
»Mach keine dummen Witze, Helene. Aber ihn anzurufen und vielleicht auf Mamas Handicap mit der zwanghaften Klauerei hinzuweisen, ist keine schlechte Idee.« Irma seufzte. »Obwohl mir so ein Anruf verdammt schwerfällt.«
»Na, dann fröhlichen Feierabend«, sagte Helene.
Irma hatte keine Lust, jetzt schon nach Hause zu gehen. Sie zog ein Buch aus der Tasche, ein schmales Bändchen in einer Spurensicherungs-Plastiktüte. Es war das Buch, in dem Erik Raabes Brief an Bosede versteckt gewesen war, das Buch, das die Spurensicherer im Grand-Deluxe-Room des Hotels
Castillo
entdeckt hatten. Seit Fernández Irma dieses Büchlein sozusagen als Abschiedsgeschenk überreicht hatte, brannte sie darauf, es zu lesen. Bislang hatte sie aber noch keine Zeit dazu gehabt.
Sie kannte nur den Klappentext, auf dem zu lesen war, dass auf der Geschichte der Vietnamfilm
Apocalypse Now
basierte. Sie fragte sich, wieso Frau Kurtz gerade dieses Buch las. Wieso hörte Frau Kurtz fanatisch ein Musikstück, nämlich den Walkürenritt, der der grausamsten Szene des Films unterlegt war? Irma hätte nicht sagen können, warum sie hoffte, durch die Lektüre etwas über die komplizierte Psyche dieser Frau und über ihre Sucht nach dieser Musik zu erfahren. Sie betrachtete das geheimnisvolle, düstere Titelbild mit der Aufschrift:
Joseph Conrad, Herz der Finsternis
. Wenig später saß sie lesend auf einer Parkbank im sonnigen Stuttgart und war nach zehn Minuten um hundert Jahre zurückversetzt.
Sie befand sich auf einer abenteuerlichen, absolut mörderischen Reise, die den Kongo hinauf in die Wildnis des innersten Afrika führte. Ins Herz der Finsternis!
Die schaurigen Ereignisse in der afrikanischen Kolonialzeit, die sich jagten und steigerten, und die ständig wiederkehrendenWörter »Wildnis«, »Hitze«, »Krankheit« und »Grauen« bescherten Irma trotz der sommerlichen Temperaturen eine chronische Ganzkörper-Gänsehaut. Je weiter sie las, desto mehr Parallelen des Filmes
Apocalypse Now
zu der Geschichte
Herz der Finsternis
taten sich auf. Die Antihelden im Film und
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