Lenke meine Fuesse Herr
vorher vorbereitet war — nur den Kaffee muss man der Maschine in der Küche noch entlocken. Um viertel nach sechs bin ich wieder auf dem Chemin. Eigentlich dachte ich, ich sei der Erste auf der Strecke, doch nach einigen Minuten komme ich zu einer Familie, die rastend am Wegesrand sitzt: Eltern, Tochter und wohl deren Freundin — die Mädchen dürften so um die sechzehn sein und haben wunderschöne Singstimmen. So lerne ich, als ich ein Stück mit ihnen laufe, endlich die Melodie des „Ultreia“-Liedes! Irgendwann geht es mir doch zu langsam und ich ziehe davon.
Ein riesiges Sonnenblumenfeld, und dahinter im Morgendunst schattenhaft eine Bergkette wie die Alpen zuhause in Hiltenfingen — das sind die Pyrenäen! Mein Gott, was habe ich schon alles geschafft! Rund gerechnet zwei Drittel des Weges! Fröhlich das Ultreia-Lied vor mich hinpfeifend und den Refrain singend schreite ich aus. Um viertel vor acht bin ich schon in Marsolan. Das ganze Dorf wird umgebaut und auch in die Kirche kommt man nicht — schade, sieht vielversprechend aus. Jetzt ist es gleich acht Uhr, Zeit für meinen Anruf nach Hause — und ich hab kein Netz! Schnell runter ins Tal und gegenüber den Berghochgehetzt — hurra, es klappt! Zwar wird, da ich im Gehen telefoniere, das Gespräch zweimal unterbrochen, doch es tut gut, mit Silvia zu sprechen.
Bald bin ich an der Abzweigung nach La Romieu — soll ich? Doch ich ziehe den direkten, kürzeren Weg vor. Noch ein Kreuzgang? Nein, ich möchte das Erlebnis Moissac nicht übertünchen. Also weiter! Es ist drückend schwül geworden und jetzt ist es gut, dass die neue Fototasche am Bauchgurt des Rucksacks hängt: So kann ich den Brustgurt offen lassen und das Hemd weit öffnen. Schöner Weg durchs Tal, doch leider nur wenig Schatten: Ich bin schweißgebadet und mein Kopf ist bestimmt prall und rot wie eine Tomate. Endlich die Chapelle Sainte-Germaine. Ein Kleinod aus dem 13. Jahrhundert und eine Wohltat an gelungener, schlichter Restaurierung. Und am Pilgerbuch sehe ich, dass die Falkenbergs heute schon da waren — sicher nicht früher als vor ein, zwei Stunden! Sollen sie ruhig vorgehen — ich gehe heute nur bis Condom — mein Körper braucht Erholung, trotz des faulen halben Tags vorgestern in La Barrale.
Weiter auf halbwegs schattiger Piste. Ein kleiner See würde zum Baden einladen, wäre das Wasser nicht so trüb — und gegen halb zwölf sehe ich schon die Gîte links überm Tal. Eigentlich ein Reiterhof in einem alten, recht heruntergekommenen Château. Um zwölf bin ich in der Gîte — na ja, da hab ich schon Besseres gesehen! Ich rufe und suche jemanden, der mir ein Bett zuweist, endlich kommt eine Frau, die behauptet, nicht zur Gîte zu gehören, mich aber trotzdem in den Schlafsaal führt. Nachher käme noch jemand, um acht gäbe es Abendessen. Ich dusche erst einmal ausgiebig und wasche Klamotten — auch das Seersuckerhemd, das ich immer am Abend anziehe: Man muss es nicht bügeln und es sieht dennoch gut aus. Morgen werde ich beide Baumwoll-T-Shirts nach Hause schicken — zum Marschieren trage ich nur noch das Funktionshemd, das ich in Sauges gekauft habe. Ich hänge die Wäsche auf einen Trockenständer auf der Terrasse, schreibe noch ein bisschen Tagebuch und dann gehe ich in die Stadt.
Die Kathedrale ist gewaltig — besonders die filigrane, steinerne Chorgestühlumfassung fasziniert mich. Hier möchte man Atem schöpfen — doch leider stimmt ein Jugendorchester lautstark und misstönend endlos die Instrumente — nach einem kurzen Rundgang flüchte ich. Immer öfter kommt mir der Gedanke: all diese herrlichen Orte mit Silvia abfahren, sich Zeit nehmen, genießen. Und vor allem: sich vorher kulturell und kunstgeschichtlich informieren. „Le cloître“ besteht aus einem Kreuzgang, in dem gerade eine Festivität vorbereitet wird — dennoch sind die buntbemalten Schlusssteine der Kreuzgewölbe einen Blick wert. Ich gehe einen Kaffee trinken, finde ein Sportgeschäft und kaufe eine Trekkinghose (Größe 48! Und ich dachte erst, das sei der Preis!): Jetzt kann ich die viel zu weit gewordenen Jeans auch mit zurückschicken. Ich schreibe noch Postkarten, gehe in einen Supermarkt und kaufe Vorräte für die nächsten Etappen.
Dann mache ich mich auf den Heimweg und gerate in einen wolkenbruchartigen Gewitterregen, der mich bis auf die Haut durchnässt, ehe ich einen Hauseingang zum Unterstellen erreichen kann. Nur gut, dass ich vorhin die neue Hose gleich angelassen und
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