Lennox 01 - Lennox
Abwasserrohr konnte ich unmöglich balancieren: Ich musste mich von dort zum Hauptabfluss hinüberschwingen und hoffen, dass ich sofort Halt fand.
Ich beugte die Knie und stieß mich seitwärts ab, die Hände nach dem Abflussrohr ausgestreckt. Meine Knöchel scharrten schmerzhaft über die Wand, aber ich bekam das Rohr gut zu fassen. Mit dem Jackenärmel blieb ich an der Rohrschelle hängen und hörte, wie der Stoff riss. Ich rutschte so schnell an dem Rohr hinunter, wie ich es wagte. Am unteren Ende schleuderte mein eigener Schwung mich auf die Pflastersteine. Ich holte Luft und versuchte aufzustehen, doch mein Rücken schmerzte teuflisch. Ich nahm meinen Hut auf und rannte über den kleinen Hof. Von dort gelangte ich in die schmale Gasse.
Die Bullen kamen aus Richtung Sauchiehall Street, also lief ich zur anderen Seite. Am Ende der Gasse wandte ich mich nach rechts und versuchte so normal und unverdächtig zu gehen wie möglich. Ich schaute an mir hinunter: Ich trug einen dunkelbraunen Wollanzug mit Wildlederschuhen, denn ich bin gerne gut gekleidet, selbst wenn ich mich mit schwulen Glasgower Zuhältern treffe. Trotzdem, meine heutige Garderobenwahl war außerordentlich unpassend: Das empfindliche Wildleder der Schuhe und die wenig widerstandsfähige Wolle des Anzugs legten zusammen mit meinen aufgescheuerten Knöcheln beredtes Zeugnis von einem hastigen Abstieg an einem Abflussrohr ab. Ich besah mir den Ärmel und stellte fest, dass ein ganzer Streifen fehlte; wahrscheinlich hing er noch an der Halteschelle.
Jetzt brauchte nur ein Streifenwagen an mir vorbeizufahren, dem einzigen Fußgänger weit und breit, dann saß ich endgültig in der Tinte. Nur das belgische Kaninchenfell meines teuren Borsalinos schien meine Flucht unbeschadet überstanden zu haben. Ich setzte den Hut auf und klopfte den Staub vom Anzug, soweit es ging. Lässig, Lennox. Ganz cool und lässig.
Doch meine Gedanken überschlugen sich. Ich beschloss, den Kelvingrove Park nach Norden zur Great Western Road zu durchqueren. Ich vermutete, dass man Polizeistreifen ausschwärmen ließ, die zu Fuß das Gebiet absuchten. Bis sie so weit waren, hätte ich den Park verlassen und mich weit genug vom Schauplatz des Verbrechens entfernt. Allerdings war ich damit noch nicht unbedingt in Sicherheit. Falls der Polizei gesteckt worden war, dass man darauf achten solle, ob mein Name im Zusammenhang mit Parks’ Tod auftauchte, fand man meine Fingerabdrücke an den Schiebefenstern im Keller, im Obergeschoss und an einem halben Dutzend Türgriffen.
Natürlich konnte es purer Zufall sein, dass ich im Haus war, nachdem man Parks gerade die Kragenweite um eine Nummer verkleinert hatte, wäre da nicht der Faktor Zeit gewesen: Meine Entdeckung von Parks’ gefolterter Leiche passte zeitlich ins Bild. Die Ankunft der Polizei passte zeitlich ins Bild. Alles passte zeitlich viel zu sehr ins Bild, als dass es Zufall hätte sein können.
Mein unmittelbares Problem bestand darin, aus der Gegend zu verschwinden. Ich konnte allerdings nicht wissen, wie viel Vorsprung die Polizei erhalten hatte.
Ich war nun auf Park Quadrant. Park Quadrant bildete den äußeren Ring der konzentrischen Kreise georgianischer Reihenhäuser; nur auf der einen Straßenseite standen Gebäude in einem Bogen. Auf der anderen Seite der breiten, ausladenden Straße verlief ein eingezäunter Gehweg, von dem man einen Blick über den Kelvingrove Park hatte. Leider fiel auf der anderen Seite des Zaunes ein Hang ab, sodass ich ihn nicht einfach überklettern und im Park untertauchen konnte.
Ich ging, so schnell ich konnte, ohne mich verdächtig zu machen. Ich hatte gerade die Kreuzung mit der Park Terrace erreicht, als ein schwarzer Wolseley-Streifenwagen hinter mir den Quadranten entlanggefahren kam. Ich duckte mich in die spärliche Deckung der Äste eines Baumes und quetschte mich gegen die schmiedeeisernen Zaunpfähle. Auf der anderen Seite des Zaunes ging es hinunter zum Park, der sich dunkelgrün unter einem granitgrauen Himmel ausbreitete.
Das war mein einziger Ausweg. Wenn ich hier länger blieb, wimmelte es gleich von Polizei. Doch ehe der Streifenwagen vorüber war, konnte ich es nicht wagen, mich zu bewegen.
Der Wolseley kroch an mir vorbei. Die Bullen, die darin saßen, konnten mich unmöglich übersehen, wenn sie in meine Richtung blickten. Doch sie taten es nicht. Der Streifenwagen behielt sein Schneckentempo bei. Gerade als ich dachte, ich hätte Glück gehabt, hielt der Wagen
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