Leo Berlin
Art.
Walther war einer der wenigen
Kollegen, die Leos gelegentliche Sprunghaftigkeit akzeptierten und als das
erkannten, was sie war: ein starkes kriminalistisches Gespür, das
nicht selten zum Ziel führte.
Dieser Mord war nicht aus
Habgier geschehen, das ahnte er. Und die Waffe war auf jeden Fall einer
der Schlüssel.
Entweder hatte der Täter
im Affekt gehandelt und nach dem erstbesten Gegenstand gegriffen, der sich
bot, oder er hatte die Wohnung gekannt und die Tat geplant. Vermutlich
hatte Sartorius den Mörder gekannt, da die Tür unversehrt war,
oder ihm zumindest so weit vertraut, dass er ihn in sein Wohnzimmer
gelassen hatte. Er würde Frau Moll morgen fragen, ob sie ihren
Arbeitgeber als eher vorsichtig oder vertrauensselig empfunden hatte.
Leo näherte sich in
Gedanken versunken der breiten, von Geschäften gesäumten
Turmstraße, die wie eine Lebensader mitten durch Moabit führte,
als plötzlich ein frischer Wind aufkam, der die Gedanken an den Mord
vertrieb. Er sah auf die Uhr. Fast halb zwölf.
Es war, als stieße ihn
die Emdener Straße ab wie ein Magnet mit gleichem Pol. Etwas in ihm
wollte nicht nach Hause. Die Kinder schliefen, Ilse war vermutlich auch
nicht aufgeblieben.
Er seufzte. Seine Frau hatte
oft auf ihn gewartet, wenn er spätabends zu einem Fall gerufen wurde,
weil sie spürte, dass er mit ihr darüber sprechen wollte. Vor
allem, wenn es um die abscheulichsten Verbrechen ging, die Morde an
Kindern. Die wenigen Fälle, die er bearbeitet hatte, waren ihm lange
nachgegangen.
Er dachte flüchtig an
Marlen, ihr dunkles Lachen, die verständnisvollen Augen. Nein, nicht
heute. Leo spürte, wie etwas Dunkles an ihm zerrte, eine vertraute
Finsternis, die ihn ansprang, wenn er am wenigsten damit rechnete.
Manchmal konnte Marlen sie vertreiben, aber heute . . . Er zog die
Schultern hoch und machte einen zögernden Schritt. Er würde wohl
doch nach Hause gehen.
Kurz vor der Haustür hörte
er Schreie aus einem Innenhof und blieb einen Moment in dem dunklen
Torborgen stehen. Schuster Matussek schlägt mal wieder seine Frau,
dachte er beinahe gleichgültig. Das ging schon lange so. Die Nachbarn
beschwerten sich, hatten ihn sogar darauf aufmerksam gemacht, weil er doch
ein »Kriminaler« war, aber der Frau war offenkundig nicht zu
helfen. Einmal war sie mit aufgeplatzter Augenbraue in den benachbarten
Kolonialwarenladen gestürzt und hatte um Hilfe geschrien, worauf man
ihren Mann verhaftete. Am nächsten Tag holte sie ihn auf der Wache ab
und erklärte, sie habe sich an einer Schranktür gestoßen.
Das Spiel wiederholte sich alle paar Monate.
Ihn störte nur, dass
seine Tochter mit Inge Matussek spielte. Bei der Arbeit ging er täglich
mit Gewalt um und konnte daher umso weniger hinnehmen, dass seine Kinder
damit in Berührung kamen. Es fiel ihm schwer, ihnen solche Dinge zu
erklären oder einen Rat zu geben. Einmal hatte Marie ihn gefragt,
warum Inges Mutter ein blaues Auge habe, und er war ihr mit einer Notlüge
ausgewichen. Und ob seine Ratschläge Georg in der Schule helfen
konnten, bezweifelte er.
Er stieß die Hände
in die Taschen und schaute nach oben zum schweigenden Himmel. Einen Mord
aufzuklären erschien ihm leichter, als Kinder zu erziehen, denn
obwohl bei seinen Fällen oft Fragen offen blieben, gab es letztlich
nur eine Lösung. Bei Kindern hingegen schien es tausend Antworten zu
geben, und meist wusste man nicht, welche richtig war.
Dann und wann ertappte er
sich dabei, wie er seine Frau verfluchte, sie und die tückische
Krankheit, die ihre Lunge binnen Tagen in einen blutigen Schwamm
verwandelt und sie in ihrem eigenen Atem hatte ertrinken lassen. Er hatte
den Kindern nicht von den letzten Stunden erzählt. Wie sie nach Luft
gerungen, um sich geschlagen, nach ihrer Mutter gerufen hatte. Von dem
Gurgeln, das jeden qualvollen Atemzug begleitete. Von seinem fassungslosen
Entsetzen, dass diese Seuche den harmlosen Namen Grippe tragen sollte.
Als das Ende kam, hatte sie
sich mit übermenschlicher Kraft im Bett aufgesetzt, ihn ruhig
angeschaut und mit fester Stimme gesagt: »Die Kinder.« Mehr
nicht. Aber er hatte es als Auftrag verstanden. Und er zwang sich, daran
zu denken, wenn ihn die vertraute Dunkelheit zu überfallen drohte.
Seit er Viola kannte, war
alles anders geworden. Viola, das Veilchen. Als hätten ihre Eltern
bei der Geburt
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