Leo Berlin
abwartend.
Er ging ins Kinderzimmer, um
Georg gute Nacht zu sagen, holte sich aus der Küche ein Glas Wasser
und setzte sich zu Ilse. Er drehte das Glas in den Händen und überlegte.
»Ich habe dir übrigens
nichts mitgebracht«, sagte er schließlich.
Sie sah ihn erstaunt an.
»Wie meinst du das?«
»Ich habe nichts
mitgebracht, damit du nicht denkst, ich wollte mich wieder freikaufen. Es
tut mir leid. Dass ich gestern nicht angerufen habe, meine ich. Ich
betrachte es aber nach wie vor als mein Recht, eine Nacht bei einer Frau
zu verbringen.«
Ilse sagte noch immer nichts.
»Vielleicht war es
nicht der richtige Zeitpunkt, aber . . . aber ich wollte einfach mit ihr
zusammen sein. Natürlich mache ich mir Sorgen um Marie, das hatte
überhaupt nichts mit ihr zu tun.«
»Ich weiß. Es ist
nicht leicht für dich und auch nicht für mich. Nicht verheiratet
zu sein, meine ich. Geschwister sollten nicht wie Mann und Frau
zusammenleben.« Sie errötete. »Du weißt schon, wie
ich es meine.«
»Ja, Ilse. Aber
wenigstens ist so keiner von uns allein.« Er stellte sein Glas ab.
»Meinst du, ich kann um diese Zeit noch mal ins Krankenhaus?«
Sie nickte. »Ihr
Zustand ist unverändert, aber sie freut sich bestimmt, wenn du zu ihr
hereinschaust.«
Erleichtert machte Leo sich
auf den Weg zum Krankenhaus. Ein länger schwelender Streit oder
stummes Nebeneinanderleben wäre ihm unerträglich gewesen.
Marie schlief. Er klopfte
leise ans Fenster, aber sie schien ihn nicht zu hören. Hoffentlich spürte
sie dennoch, dass er da war. Auf dem Flur erwischte er einen Arzt und
erfuhr, dass sich ihr Zustand immerhin nicht verschlechtert hatte. Die nächsten
beiden Tage waren entscheidend.
Leo wollte schon nach Hause
gehen, doch dann fiel ihm noch etwas ein. Er ließ sich den Weg zur
Abteilung für Haut- und Geschlechtskrankheiten erklären und
fragte dort nach einem Arzt, der sich mit Syphilis auskannte.
»Damit kennen sich hier
alle aus«, antwortete die Schwester trocken und winkte einen Arzt
herbei, der gerade den Kittel ausziehen wollte. »Herr Dr. Opitz, der
Kommissar möchte etwas über Syphilis wissen.«
Der Arzt, der ziemlich müde
wirkte, führte Leo in ein Besprechungszimmer und bot ihm einen Stuhl
an. »Ich hoffe, Sie erwarten keine Sittengeschichte von der
Entdeckung Amerikas bis zur Gegenwart, Herr Kommissar. Ich habe nämlich
Feierabend. Nach sechzehn Stunden.«
»Keine Sorge, ich habe
nur einige kurze Fragen. Wie wird Syphilis heute behandelt?«
»Vor allem mit
Neosalvarsan. Es ist seit einigen Jahren auf dem Markt und das beste
Mittel, wir haben gute Erfolge damit erzielt. Sein Vorläufer
Salvarsan hatte teilweise heftige Nebenwirkungen, die man bei dem
Nachfolgemedikament eindämmen konnte.«
»Wäre es denkbar,
dass vor zehn, elf Jahren hier in Berlin Menschen mit diesem Mittel
geheilt wurden?«
»Durchaus.
Vorausgesetzt, sie hatten den Mut, das neue Mittel zu probieren. Es gab
damals heftige Auseinandersetzungen, die Mediziner waren in zwei Lager
gespalten, was den Patienten auch Angst gemacht hat. Aber die frühere
Behandlung mit Arsen war weitaus gefährlicher und besaß kaum
Aussicht auf Erfolg.«
»Und wenn man Syphilis
nicht behandelt?«
»Manche Patienten
genesen, doch das kommt eher selten vor. Wir teilen die Erkrankung in vier
Stadien ein. Das letzte Stadium, die sogenannte Paralyse, stellt einen
Befall des Gehirns dar, dessen Nervenzellen zerstört werden. Sie kann
sich sehr unterschiedlich auswirken, ist letztlich aber tödlich.
Sprachstörungen, Lähmungserscheinungen, Wahnsinn, all das ist in
diesen Fällen denkbar. Wird hingegen das Rückenmark befallen,
sprechen wir vom Tabes dorsalis. Er ist ebenfalls eine schwere Erkrankung,
die jedoch meist nicht unmittelbar zum Tode führt.«
Leo machte sich Notizen.
»Wie lange dauert es gewöhnlich, bis das vierte Stadium
eintritt?«
Der Arzt legte die
Fingerspitzen aneinander und stützte das Kinn darauf. »Auch das
ist unterschiedlich. Vom Zeitpunkt der Infektion an können zehn, wenn
nicht sogar zwanzig Jahre vergehen, bis der Patient das letzte Stadium
erreicht.«
Er stand auf. »Kommen
Sie mit.«
Der Arzt führte Leo
durch einen langen, kahlen Korridor und öffnete eine Tür.
»Unser kleines Archiv. Keine Angst, es sind nur Photographien. Ich
habe nicht vor, Ihnen meine Patienten
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