Lesereise - Schweden
eines Flusses – auch deswegen ist unser Messergebnis ungewöhnlich exakt. »Hier ist Nuppi«, deutet Friebe auf die Karte, »nur dreihundert Meter von uns weg.« Nie hätte ich gedacht, dass man sich einem wilden Braunbären so weit nähern könnte.
»Wenn man hier im Wald spazieren geht oder Beeren pflückt, läuft man ständig so nahe an einem Bären vorbei«, sagt Friebe. Aber begegnen wird man keinem. Dass hier Bären leben, bemerkt man nur an den Spuren, die sie hinterlassen – so man sie denn erkennt. Friebe zeigt mir Kratzspuren an Bäumen, aufgebrochene Ameisenhaufen und Höhlen, in denen die Bären die Monate der Winterruhe verbringen. Wobei das Wort Höhle in einigen Fällen eine ziemliche Übertreibung ist. Manche Bären sind recht bescheiden und begnügen sich mit einem kleinen Loch im Boden oder einem alten Ameisenbau. Einige Männchen bauen sich sogar nur ein Bett aus Zweigen und lassen sich dann zuschneien.
Zweitausendzweihundert Braunbären leben in Schweden. Hundertvierzig von ihnen sind wie Nuppi markiert. All ihre Schritte werden von Andrea Friebe und anderen Bärenforschern überwacht. Das Projekt soll über Wanderwege und Fressgewohnheiten Aufschluss geben. »Außerdem weiß man erst durch unsere Forschung, wie viele Bären es hier überhaupt gibt«, so Friebe. Früher schätzte man die Zahl, und die ging nicht selten völlig an der Realität vorbei. Da anhand der »Bärenvolkszählung« die legale Abschussquote festgelegt wird, ist sichergestellt, dass nie zu viele Tiere getötet werden.
Bevor Friebe aber der Spur der Bären folgen kann, muss man diese mit einem Sender versehen. Die modernen Bärenforscher gehen dazu in die Luft und spüren die Tiere mit dem Helikopter auf. Sobald ein Bär gesichtet wird, senkt der Pilot den Hubschrauber bis auf wenige Meter über ihn ab. Dann ist eine ruhige Hand gefragt. Aus dem fliegenden Helikopter heraus bekommt der davonstürmende Bär mit dem Gewehr einen Betäubungspfeil ins Hinterteil verpasst. Dass das Geschoss auch wirklich dort landet, ist wichtig, denn ansonsten bestünde die Gefahr, das Tier zu verletzen oder gar zu töten. Bei bisher etwa tausend Markierungen sei dies zweimal passiert, erzählt Friebe. Je nach Größe und Gewicht des Bären dauert es bis zu zwei Minuten, bis die Narkose wirkt und er regungslos am Boden liegt. Dann muss alles ganz schnell gehen. Das Markierungsteam springt aus dem Helikopter und nähert sich ihm vorsichtig. Der Bär atmet tief, Speichel tropft ihm aus dem Maul und seine offenstehenden Augen blicken ins Leere. Als Erstes wird er vermessen und gewogen, dann ein kleiner zurückgebildeter Backenzahn gezogen. Der ist wie der menschliche Weisheitszahn ein Überbleibsel aus frühester Evolutionsgeschichte. Der Bär braucht ihn nicht, die Forscher hingegen schon: Anhand von »Jahresringen« im Zahnschmelz können sie später im Labor das Alter des Tieres bestimmen. Zum Schluss bekommt der Bär das Sendehalsband verpasst. Allerdings nur, wenn es sich um ein weibliches Tier handelt. »Seit einiger Zeit forschen wir nur noch an Bärinnen«, sagt Friebe. Männchen legen zu weite Strecken zurück, sodass man ihren Routen nur schwer folgen kann.
Es dauert einige Zeit, bis ein betäubter Bär wieder zu sich kommt. Während er schlummert, wird er von seinen Jägern bewacht. Bären sind eigentlich keine Kannibalen, aber wenn sie einen ihrer Kollegen so wehrlos und attraktiv angerichtet daliegen sehen, können die meisten der Versuchung nicht widerstehen. Deswegen fliegen die Wissenschaftler erst weiter, wenn der markierte Bär davontrottet.
Markieren aus der Luft ist nicht nur schneller, es ist auch sicherer. Früher konnte es für den Schützen fatale Folgen haben, wenn ein Schuss danebenging oder nicht sofort die gewünschte betäubende Wirkung hatte. Sobald sie sich bedroht fühlen, werden Bären nämlich richtig übellaunig. Und dann greifen sie an. Der einzige Mensch, der in den letzten Jahren von einem Bären angefallen wurde, war deswegen auch ein Jäger. Der schoss so miserabel, dass er auch nach mehreren Versuchen noch keinen Blattschuss angebracht hatte. Bevor der schwer verletzte Bär verendete, griff er an und tötete den Jäger.
Solange man sie aber nicht reizt, sind die schwedischen Braunbären für den Menschen ungefährlich. Unprovozierte Angriffe gab es bisher noch nie. »Bären werden in Schweden schon lange gejagt und haben deswegen gehörigen Respekt vor uns«, erklärt Andrea Friebe. »Sie fürchten
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