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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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Küchenstuhl direkt neben dem Herd saß. Sie blickte in meine Richtung, und als sie mich sah, winkte sie mich herein.
    Ich machte die Tür auf und steckte den Kopf hinein. »Hi, Nell. Wie geht’s?« Der Herd war halb zerlegt worden — die Backofentür offen und die Roste entfernt — , offenbar als Vorbereitung auf eine gründliche Reinigung. Die Arbeitsplatte war mit Zeitungen bedeckt, auf denen die Grillroste lagen, die noch vom Backofenreiniger schäumten.
    »Ganz wunderbar. Kommen Sie rein, Kinsey. Schön, Sie zu sehen.« Normalerweise trug sie ihr dickes, silberfarbenes Haar in einer komplizierten Frisur mit Schildpattkämmen nach hinten gesteckt, aber heute hatte sie es in die Falten eines Schals gehüllt, was sie ein wenig wie ein altes Aschenputtel aussehen ließ.
    »Sie sind aber fleißig«, sagte ich. »Gerade erst angekommen und schon schwer am Arbeiten.«
    »Tja, ich bin nicht glücklich, bis ich einen Herd auseinandernehmen und richtig gründlich putzen kann. Henry ist zwar äußerst begabt in Haushaltsdingen, aber ein Herd ist einfach etwas, das die Hand einer Frau braucht. Ich weiß, das klingt sexistisch, aber es ist die Wahrheit«, sagte sie.
    »Brauchen Sie Hilfe?«
    »Auf jeden Fall könnte ich Gesellschaft brauchen.« Nell trug eine Kittelschürze über ihrem baumwollenen Hauskleid, dessen lange Ärmel sie durch Manschetten aus Küchenkrepp schützte, die sie mit Gummibändern befestigt hatte. Sie war eine hochgewachsene Frau und in jungen Jahren sicherlich fast einen Meter achtzig groß gewesen. Sie hatte breite Schultern, schwere Brüste und stattliche Füße und Hände, obwohl ihre Knöchel mittlerweile unterhalb der Haut so knotig wie Schnüre waren. Ihr Gesicht war lang und knochig und in seinem Ausdruck nahezu geschlechtslos: dünne, weiße Brauen, stahlblaue Augen und die Haut vertikal von Furchen und Runzeln durchzogen.
    Der Kühlschrank war vollkommen leergeräumt worden, und sämtliche Abstellflächen waren übersät mit Resten in abgedeckten Schüsseln, Gläsern mit Oliven und eingelegtem Gemüse, Gewürzen und frischem Gemüse. Die Kühlfächer waren herausgenommen worden, und eines davon stand in einem Spülbecken voller Seifenwasser. Sie hatte eine Reihe von Dingen in den Abfalleimer geworfen, und ich sah, daß sie etwas Glitschiges dem Müll überantwortet hatte.
    »Sehen Sie nicht da hin. Ich glaube, es lebt noch«, sagte sie. Sie wrang den Lappen aus, mit dem sie die Kühlschrankroste abwischte. »Wenn ich damit fertig bin, nehme ich ein Schaumbad, und dann ziehe ich einen Bademantel und Pantoffeln an. Ich muß mit meinem Lesestoff nachkommen. Ich denke andauernd, daß meine Augen jeden Tag ihren Dienst versagen können, und ich will noch so viel wie möglich aufnehmen.« Sie hatte ein Glas aufgeschraubt und spähte hinein. Sie schnupperte, konnte aber den Inhalt nicht identifizieren. »Was um alles in der Welt ist das?« Sie hielt es gegen das Licht. Die Flüssigkeit war hellrot und sirupartig.
    »Ich glaube, das ist die Glasur für die Kirschtorte, die Henry immer backt. Sie wissen doch, daß er den Kühlschrank erst vor zwei Tagen geputzt hat.«
    Sie schraubte den Deckel wieder zu und stellte das Glas auf die Arbeitsplatte. »Das hat er behauptet. Zufälligerweise ist Kühlschrankputzen eine meiner Spezialitäten. Ich habe es Henry 1912 beigebracht. Sein Problem ist, daß er nicht rigoros genug ist. Das sind die wenigsten von uns, wenn es um unseren eigenen Dreck geht. Wenn ich schon einmal hier bin, kann ich gleich alles pieksauber schrubben.«
    »War das Ihre Lebensaufgabe — sämtlichen Jungs beizubringen, wie man einen Haushalt in Ordnung hält?«
    »Mehr oder weniger. Ich habe Mutter dabei geholfen, uns zehn aufzuziehen. Nach Vaters Tod fühlte ich mich zum Bleiben verpflichtet, bis sie ihren Lebensmut wiedergefunden hatte, was an die dreißig Jahre gedauert hat. Sie war am Boden zerstört, als sie ihn verlor, doch soweit ich mich erinnere, sind die beiden nie so besonders miteinander ausgekommen. Heidenei. Was hat sie nur um diesen Mann getrauert. Später kam ich darauf, daß sie ein bißchen übertrieben hat, nur um mich an der Kandare zu halten.«
    »Zehn Kinder? Ich dachte, Sie wären nur fünf. Sie, Charlie, Lewis, William und Henry.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Wir waren die fünf überlebenden Kinder. Wir schlugen nach den Tilmanns mütterlicherseits. In unserer Familie gab es eine klare Trennung unter den Kindern, die unsere Mutter zur Welt gebracht hat. Die

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