Letzte Ehre
einem Bürokomplex mit verspiegelter Fassade auf der anderen Seite der Sackgasse. Zur Rechten verschwand eine vierspurige Schnellstraße in beiden Richtungen, ohne irgendeinen Hinweis darauf, wohin sie zur einen oder anderen Seite führte. Das Hotel war offenbar inmitten eines Gewerbe-/Industrieparks mit nur einem einzigen anderen Bewohner gebaut worden. Während ich noch hinaussah, tauchte zu meiner Linken eine Gruppe Täufer auf. Sie sahen aus wie Kinder, vielleicht aus den mittleren Klassen, in jenem Wachstumsstadium, in dem Körpergrößen und -formen in allen Variationen vorkommen. Groß, klein, untersetzt oder dünn wie Bohnenstangen, rannten sie mit knochigen Knien dahin, die Langsameren hinter den Schnellen drein. Sie trugen Shorts und grüne Satintrikots, waren jedoch zu weit von mir entfernt, als daß ich den Namen der Schule auf ihren Uniformen hätte lesen können.
Ich zog die Vorhänge wieder zu und ging zum Bett hinüber, wo ich mich ausstreckte und mir Kissen in den Rücken stopfte, während ich Henry anrief. Sowie er sich meldete, sagte ich: »Rat mal, wo ich bin.«
»Im Gefängnis.«
Ich lachte. »In Dallas.«
»Das überrascht mich nicht. Ich habe heute morgen mit Chester gesprochen, und er hat mir erzählt, daß du irgendeine Spur ins Ungewisse verfolgst.«
»Was gibt’s denn Neues bei den Lees? Haben sie inzwischen herausgefunden, was gestern abend gestohlen wurde?«
»Meines Wissens nicht. Chester hat mir erzählt, daß die Sockelleiste unten am Küchenschrank abgerissen wurde. Es hat den Anschein, als hätte der alte Knabe eine Art Geheimfach konstruiert, als er die Spüle eingebaut hat. Der Hohlraum hätte natürlich auch leer sein können, aber es ist doch wahrscheinlicher, daß jemand mit dem, was sich darin befand, davonmarschiert ist.«
»Ein Geheimfach zusätzlich zu dem Safe? Das ist ja interessant. Ich frage mich, was er zu verstecken hatte.«
»Chester glaubt, es waren Kriegsdokumente.«
»Davon hat er mir erzählt. Ich glaube zwar nicht daran, aber das finde ich noch heraus. Der Typ, den ich gesehen habe, hat den Matchsack seiner Frau oder Freundin gegeben, und sie hat ihn gestern abend mit ins Flugzeug genommen. Der Mann selbst war nicht an Bord, aber vermutlich hat er vor, sich mit ihr zu treffen. Sie hatte eigentlich bis Palm Beach gebucht, aber sie ist in Dallas ausgestiegen, also habe ich das natürlich auch getan.«
»Oh, natürlich. Warum auch nicht?«
Ich mußte über seinen Tonfall lächeln. »Auf jeden Fall könntest du die Polizei dazu veranlassen, das Motel Capri zu überprüfen. Ich bin nicht dazu gekommen, Chester davon zu erzählen. Ich weiß die Nummer nicht, aber es war die zweite Hütte von rechts. Ihr Kumpan könnte sich immer noch dort aufhalten, falls er nicht inzwischen abgereist ist.«
»Ich mache mir Notizen«, sagte Henry. »Die gebe ich dann der Polizei, wenn du möchtest.«
»Was ist mit Ray? Glauben sie, daß er etwas damit zu tun hat?«
»Tja, irgendeinen Bezug muß er dazu haben. Die Polizei hat versucht, ihn zu befragen, aber er schweigt wie ein Grab. Wenn er irgend etwas darüber weiß, so sagt er es nicht.«
»Klingt, als hätte ihm jemand wegen der Auskunft über die Sockelleiste eines übergezogen.«
»Das vermute ich auch. Einer der Polizisten hat ihn in die Ambulanz im St. Terry’s gebracht, doch sowie der Arzt mit seiner Behandlung fertig war, ist er verschwunden, und seitdem hat niemand mehr etwas von ihm gehört.«
»Tu mir einen Gefallen. Geh hinüber ins Hotel Lexington und sieh nach, ob er dort ist. Zimmer 407. Ruf nicht vorher an. Vielleicht geht er nicht ans Telefon —«
Henry fiel mir ins Wort. »Zu spät. Er ist schon weg, und ich glaube kaum, daß er wieder auftaucht. Bucky ist heute morgen hinübergegangen, und da war sein Zimmer schon leer. Natürlich ist die Polizei an ihm als wichtigen Zeugen interessiert. Wie steht’s mit dir? Soll ich dem Detective sagen, was du gesehen hast?«
»Das kannst du machen, aber ich weiß nicht, ob es viel nützen wird. Sowie ich herausfinde, was los ist, rufe ich selbst die Polizei von Santa Teresa an. Die Polizei hier wird nicht zuständig sein, und im Moment weiß ich noch nicht einmal genau, um welche Art von Straftat es überhaupt geht.«
»Körperverletzung auf jeden Fall.«
»Ja, aber was ist, wenn Ray Rawson nicht mehr auftaucht? Selbst wenn er sich wieder meldet, weiß er vielleicht gar nicht, wer ihn niedergeschlagen hat, oder er weigert sich, ihn anzuzeigen. Und was den
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