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Letzte Ehre

Letzte Ehre

Titel: Letzte Ehre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sue Grafton
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Laura Huckabys Tür, ohne je etwas zu hören. Vielleicht würde sie mich hineinlassen, wenn ich bellte und kratzte. Hin und wieder kamen und gingen andere Hotelgäste, doch niemand widmete mir auch nur die geringste Aufmerksamkeit.
    Folgendes habe ich über das Dasein eines Zimmermädchens gelernt: Die Menschen sehen einem selten in die Augen. Gelegentlich huscht einem jemandes Blick übers Gesicht, aber daraufhin könnte einen später niemand bei einer Gegenüberstellung identifizieren. Gut für mich, obwohl ich glaube, daß es nicht einmal in Texas als Verbrechen gälte, sich als Zimmermädchen auszugeben.
    Um 20.15 Uhr stellte ich den Staubsauger zurück in die Wäschekammer und bewaffnete mich mit einer Ladung frischer Handtücher. Ich kehrte zu Ziffer 1236 zurück, klopfte und rief gleichzeitig mit glockenheller Stimme: »Das Zimmermädchen.« Wirkte wie ein Zaubertrick. Nur Augenblicke später öffnete Laura Huckaby mit vorgelegter Sicherheitskette die Tür einen Spalt weit. »Ja?«
    Ohne Augen-Make-up sahen ihre haselnußbraunen Augen sanft und blaß aus. Ihr Teint wirkte durch die leichte Musterung aus zuvor von Make-up verdeckten Sommersprossen frisch. Außerdem hatte sie ein Grübchen im Kinn, das mir zuvor noch nicht aufgefallen war.
    Ich richtete meinen Kommentar an den Türknauf, um nicht hochnäsig zu erscheinen. »Ich bin gekommen, um das Bett aufzudecken.«
    »In diesem Hotel wird einem das Bett aufgedeckt?« Sie klang rechtschaffen verblüfft, als wäre allein die Vorstellung grotesk.
    »Ja, Ma’am.«
    Sie hielt inne und zuckte dann die Achseln. »Einen Moment bitte«, sagte sie und schloß die Tür. Es gab eine Verzögerung von ein paar Minuten, dann löste sie die Kette und trat beiseite, um mich einzulassen.
    Es war interessant festzustellen, wieviel ich durch meine Seitenblicke wahrnehmen konnte. Wie eitel war sie eigentlich? Ich hätte schwören können, daß sie die Zeit genutzt hatte, um wieder Make-up aufzulegen. Das wirre kastanienrote Haar war frisch gewaschen und klebte ihr noch am Kopf. Warme, feuchte, nach Shampoo duftende Luft wehte aus dem Badezimmer. Ich legte die frischen Handtücher auf die Ablagefläche neben dem Waschbecken, ging weiter in den Schlafbereich und zog die Vorhänge zu. Der Fernseher lief ohne Ton. Sie hatte ihren Zimmerschlüssel auf den Schreibtisch geworfen. Sofort begann ich zu überlegen, wie ich ihn in die Finger bekommen könnte. An der Unordnung konnte ich sehen, daß sie mit dem Telefon in Reichweite auf dem Bett gelegen war. Vielleicht hatte sie den Anruf bekommen, auf den sie gewartet hatte. Soweit ich erkennen konnte, war der Matchsack nirgends zu sehen.
    Sie setzte sich mit ihrer Illustrierten an den Schreibtisch. Als sie die Beine übereinanderschlug, konnte ich einen Streifen blanke Haut sehen. Ihr rechter Knöchel und das Schienbein waren eine dunkle Masse alter Blutergüsse, die an den Rändern grün wurden. Hatte ihr über fünfzig Jahre alter Begleiter sie nach Strich und Faden verprügelt? Das würde jedenfalls erklären, warum sie ihn so eisig behandelt hatte und weshalb sie so um ihr Aussehen bemüht war. Ihr Essenstablett stand immer noch vor ihr auf dem Tisch, eine zerknitterte weiße Serviette achtlos über die schmutzigen Teller geworfen. Was auch immer sie bestellt hatte, sie hatte nicht viel gegessen. Obwohl es ja vermeintlich mein Job war, schien ihr meine Anwesenheit im Raum peinlich zu sein, was sich im Endeffekt zu meinem Vorteil auswirkte. Sie ignorierte mich weitestgehend, obwohl sie mir hin und wieder einen verunsicherten Blick zuwarf. Langsam begann ich meine Unsichtbarkeit zu genießen. Ich konnte sie, ohne lästige Floskeln zu wechseln, aus nächster Nähe beobachten. War das der Schatten eines blauen Flecks an ihrem rechten Kiefer, oder bildete ich mir da etwas ein? Mit was für einem Mann war sie zusammen? Allem Anschein nach hatte er Ray Rawson wüst zugerichtet, also könnte er auch sie verprügelt haben.
    Meine Uniform machte ein emsiges, kleines raschelndes Geräusch, als ich die Tagesdecke zweimal faltete. Ich rollte sie zu einem dicken Wulst zusammen und stopfte sie in eine Ecke. Dann deckte ich das Bett halb auf, schüttelte die Kissen und ließ eines der einzeln verpackten Pfefferminzplätzchen auf dem Nachttisch liegen.
    Ich ging wieder zu der Spiegelkommode und putzte das Waschbecken, wobei ich ständig das Wasser an- und ausdrehte, auch wenn ich sonst nicht viel tat. Ich musterte ihre Schminksachen: Abdeckstift,

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