Letzte Ehre
Dann leerte ich den Matchsack und schüttete seinen Inhalt auf den Fußboden.
Zuerst untersuchte ich die Tasche selbst, äugte in jedes Fach und jede Falte und fuhr mit den Fingern in sämtliche Ecken. Ich hatte gedacht, daß ich vielleicht irgendein Geheimfach finden würde, doch es schien nichts dergleichen vorhanden zu sein. Ich fummelte an jeder Naht, jedem Stift und jeder Verbindung herum. Ich inspizierte jedes Kleidungsstück, das ich auf den Boden geworfen hatte, wobei ich die gestohlene Uniform zusammenlegte und wieder einpackte, dazu einen baumwollenen Schlafanzug, zwei Paar Strümpfe, T-Shirts, Tampons, zwei Büstenhalter und unzählige Höschen und Socken. Hier war absolut nichts.
Ich merkte, wie meine Unruhe wuchs. Ich war diesem sinnlosen Gepäckstück über drei Bundesstaaten hinweg gefolgt, ausgehend von der Annahme, daß es etwas enthielt, was die Verfolgung wert war. Nun sah es danach aus, als hätte ich es zu nichts als einem Haufen gebrauchter Unterwäsche gebracht. Was sollte ich Chester sagen? Er würde toben, wenn ich ihm erzählte, daß ich dafür den ganzen Weg nach Dallas geflogen war. Der Mann hatte nicht das Geld dazu, mich auf der Spur einiger Baumwollslips quer durchs Land jetten zu lassen. Ich hatte das Gesetz gebrochen. Ich stand mit einem Bein im Gefängnis. Ich hatte sowohl meine Lizenz als auch meinen Broterwerb aufs Spiel gesetzt. Ich begann, das Zeug wieder in das Reißverschlußfach zu schieben. Zum Glück sahen die Höschen so aus, als ob sie mir passen würden, und ich konnte ein sauberes Paar gebrauchen. Ich zögerte. Nee, vermutlich keine gute Idee. Falls ich wegen Diebstahls verhaftet würde, wäre es besser, wenn ich das Beweisstück nicht über meinem Hintern trüge.
Ich verließ die Toilettenkabine und versuchte, lässig zu wirken und nicht wie eine schwerkriminelle Dessous-Diebin auf der Flucht. Ich konnte mich nicht dazu überwinden, den Matchsack zurückzulassen. Im Grunde klammerte ich mich immer noch an die Idee, daß er einen seltenen und unbezahlbaren Gegenstand darstellte anstatt meine Fahrkarte ins Kittchen. Ich spähte nach links durch die Hotelhalle zum Haustelefon, doch von Ray war noch immer nichts zu sehen. Ich postierte mich an einem der öffentlichen Telefone und wühlte in meiner Jackentasche, deren Inhalt ich auf der Suche nach Kleingeld ausleerte. Auf das metallene Bord legte ich eine Kinokarte, den Kugelschreiber, mein Fünf-Dollar-Trinkgeld, zwei Vierteldollars und die Büroklammer. Ich warf eine der beiden Münzen in den Schlitz und meldete ein Gespräch an Chester in Kalifornien an, mit dem ich meine Telefonkreditkarte belastete. Ich bekam meinen Vierteldollar zurück, legte ihn zum ersten und schob zur Beruhigung gedankenlos die Gegenstände hin und her. Ich nahm nicht an, daß Chester beglückt sein würde. Ich hoffte, daß er nicht zu Hause wäre, aber beim dritten Klingeln nahm er höchstpersönlich den Hörer ab. »‘Lo.«
»Hallo, Chester? Hier ist Kinsey.«
»Können Sie lauter sprechen? Ich kann Sie nicht verstehen. Wer ist dran?«
Ich wölbte eine Hand über die Sprechmuschel und drehte den Körper zur Seite, damit ich meinen Namen nicht quer durch die Hotelhalle brüllen mußte. »Ich bin’s. Kinsey«, zischte ich. »Ich habe den Matchsack, aber darin ist nichts von Belang.«
Totenstille. »Das soll wohl ein Witz sein.«
»Äh, nein, eigentlich nicht. Entweder sind die Sachen woanders hingebracht worden, oder es ist überhaupt nichts gestohlen worden.«
»Natürlich haben sie etwas gestohlen! Sie haben die verfluchte Sockelleiste vom Küchenschränkchen abgerissen. Pappy hatte wahrscheinlich Bargeld versteckt.«
»Haben Sie jemals Bargeld gesehen ?«
»Nein, aber das besagt nicht, daß es nicht da war.«
»Das ist reine Spekulation. Vielleicht ist der Kerl eingebrochen und hat nichts gefunden. Der Matchsack hätte ja auch leer sein können.« Ich begann die Gegenstände auf dem Bord umzugruppieren und legte einen der Vierteldollars über Lincolns Gesicht auf dem Fünf-Dollar-Schein. George Washington auf der Münze wirkte nackt, während Lincoln auf dem Schein mit seinem Sonntagsstaat ausstaffiert war. Sie mußten George mit zurückgekämmtem Haar in der Sauna erwischt haben.
In unwirschem Ton sagte Chester: »Das kapiere ich nicht. Warum rufen Sie mich an, nur um mir einen solchen Bockmist zu verzapfen?«
»Ich fand, Sie sollten über die neuesten Entwicklungen Bescheid wissen. Ich hielt es für angemessen.«
»Angemessen?
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