Letzte Haut - Roman
brach es aus Koch heraus: „Ihr wisst ja alle gar nicht, was abgeht! Pohl wird mich hier herausholen, und euch alle wird er umlegen lassen! Pohl beschafft Milliarden von Goldbarren aus den eroberten Gebieten, was meint ihr denn, womit der Weltkrieg finanziert wird? Doch mit dem Gold der Besiegten! Und darum ist auch der Reichsführer SS von Pohl abhängig! Und sogar der Führer selbst! Ihr könnt doch Pohl alle nicht das Wasser reichen, ihr Arschgeigen! Arschgeigen, ich lasse euch alle durch den Schornstein jagen! Kapiert? Durch den Schornstein! – Sommer, los, nimm sie dir vor, Mann, mach ihnen den Sommer, heiz denen ein!“
Donnerwetter! Wenn das kein Geständnis war! Kurt Schmelz grinste übers ganze Gesicht. Damit war Karl Koch erledigt! Und, er hatte sogar Pohl schwer belastet, er hatte gerade eben den Obergruppenführer belastet, von den Vorgängen in den Konzentrationslagern zu wissen! Fantastisch! Das war ein Ansatz! Doktor Kurt Schmelz nahm sich vor, gleich nach dem Prozess mit Kaltenbrunner zu telefonieren. Die Sache nahm Gestalt an. Das Projekt gewann an Konturen. Der Sprung ins Justizministerium war nur noch eine Frage der Zeit. Kurt Schmelz sah zum Erbprinzen, der sich eifrig Notizen machte. Notizen, ja, klar, Notizen waren doch das Wichtigste. Bisher war doch noch jeder, so groß er auch war, über kleine, mickrige Notizen gestolpert.
Kurt Schmelz sah sich die anderen Angeklagten an. Sie schienen ihm wie versteinert. Ilse Koch, die heute Morgen noch hysterisch geworden war und alles abgestritten hatte, schwieg apathisch. Hackmann, der einen trotzigen Eindruck mache, als wäre er ein kleiner Junge, der sich ungerecht behandelt fühlte. Geschürzte Lippen, beleidigter Blick, die Arme vor der Brust. Nur Waldemar Hoven wirkte unnahbar. Ihm sah man keine Reaktionen an, keine Gefühle, keine Ängste. Er hatte sich völlig unter Kontrolle, aber Waldemar Hoven war einst ein Schauspieler in Hollywood gewesen. Er beherrschte die Pose, und Schmelz meinte auch, Hoven spiele einfach eine Rolle, er habe sich einfach in einen Film hineingedacht. Schmelz biss sich auf die Unterlippe. Immerhin war es ihm gelungen, Hoven als untragbar für SS und Partei hinzustellen. Dessen Karriere war beendet! Wer sich mit verheirateten Frauen, mit Frauen von Kameraden, einließ, der war erledigt! Sollte Hoven hier ungeschoren davon kommen, Schmelz nahm sich vor, ihm dann einen neuen Prozess zu machen. Egal, wohin man in dieser Elite schaute, überall Unzucht, Diebstahl, Mord und Feigheit.
„Sehr geehrtes Gericht, ich möchte jetzt zur Verlesung einer Zeugenaussage kommen“, sagte der Staatsanwalt und erhob sich: „Leider kann der Zeuge selbst heute hier nicht anwesend sein. Er ist an den Folgen schwerer Verletzungen in der letzten Woche verstorben. Diese Zeugenaussage ist ein wenig ungewöhnlich und wird Farbe in diesen Prozess bringen, da sie in einer Art, wie soll ich sagen, in einer Art Geschichte erzählt ist. Eine Art Kurzgeschichte. Sie wurde aber zum Einen vom Zeuge noch vor seinem Tod beeidigt …“
„Na, nach seinem Tod ginge ja auch schwer!“, warf Piepenbrock ein, woraufhin ein Gelächter aus den Reihen der SS Offiziere hervorbrach.
„Und zum Anderen wurde es von allen Beteiligten ebenfalls beeidigt, die in dieser Aussage als Geschädigte erkennbar werden. Dieser Bericht entstand unmittelbar nach der Tat des Angeklagten Sommer und soll dessen menschenverachtende Seite offen aufdecken, damit wir alle einmal begreifen, wovon wir hier überhaupt reden, meine Herren“, sagte Staatsanwalt Breithaupt, setzte sich wieder, räusperte sich und begann vorzulesen:
„Kraft durch Freude, denkt Sommer, Leiter des Arrestbunkers von Buchenwald. Er geht durch das Tor, ohne den Wachen Beachtung zu schenken, und grinst in die Dunkelheit.
Die Scheinwerferkegel kreisen über den leeren Appellplatz und hin und wieder streifen sie den Hauptscharführer. Er geht nach vorne gebeugt, mit angezogenen Schultern, und hält die Hände in den Hosentaschen.
Martin Sommer foltert, auch wenn ein Geständnis von den schwerverletzten Insassen schon längst unterschrieben ist. Er erschießt die Todgeweihten erst, wenn er ihnen Kniescheiben und Unterleib zertrümmert und die Schultern ausgekugelt hat, und er setzt die Giftspritzen in seinem Arrestbunker beim ersten Mal immer mit zu wenig Arsen. Nicht selten lacht er während seiner Taten lauthals, und immer habe er ein wohliges Gefühl dabei, hatte er geprotzt.
Kraft durch Freude, denkt
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