Letzte Haut - Roman
Sommer also.
Es ist kurz nach Mitternacht, Sommer weiß, die nächste Wachrunde wird erst um zwei oder zwei Uhr dreißig sein. Getrieben von Schlaflosigkeit schleicht er zwischen die Baracken und sucht jenes Vergehen, das einen Befehl zur Bestrafung unnötig mache. Er wolle auf frischer Tat ertappen, er wolle leiden lassen, so klein der Anlass auch sei, hatte er geprotzt.
Zwischen den vierundsechzig Baracken, die sich am Hauptweg paarweise gegenüberstehen, geht er nach Süden. Er setzt die Schritte lautlos auf den Kiesweg, folgt einer Eingebung und trabt geduckt die Längsseite der Nummer dreiundfünfzig entlang.
Alle paar Schritte verharrt er, lauscht, schleicht weiter, horcht, wirft Kiesel in die Dunkelheit, lauscht wieder und wartet geduldig auf eine Unregelmäßigkeit, auf das entscheidende Geräusch, das aufzuspüren für ihn mit zum Reiz gehört. Erst wenn er es lokalisiert habe, könne er aufspringen und mit ganzer Lust ansetzen, hatte er geprotzt.
Er fiebert dem verräterischen Geräusch entgegen, vergisst alles andere, und schließlich werden ihm die Knie vor Aufregung weich. Er bleibt unter einem Fenster hocken, setzt sich lautlos gegen die Barackenbretter und schließt die Augen. Ein Ohr drückt er gegen das Brett, mit einer Hand knöpft er die Uniformhose auf und wichst sich still.
Doch so sehr er es auch zwingen will, kein einziges Geräusch dringt aus der Baracke. Schließlich muss er die Eichel fest zusammendrücken und den Penis erschlaffen lassen.
In Gedanken stehe er dabei auf einem Hügel, hatte er geprotzt. Menschen würden von allen Seiten auf ihn zu kriechen. Er drehe sich langsam um sich selbst und setze mit zwei Maschinengewehren an der Hüfte lange und kurze Feuerstöße auf die Kriechenden.
Grinsend knöpft er die Hose zu, richtet sich auf, schlägt auf die eingeschlafenen Schenkel und sieht durch das Barackenfenster, unter dem er gehockt hat.
Vier Augen, tief in den Höhlen liegend, starren ihn zwei Sekunden lang an, ehe die fahlen Gesichter verschwunden sind.
Zwei Sekunden zu lange.
Mit der Faust schlägt er gegen das Fensterkreuz und reibt mit der anderen Hand über den Uniformstoff, der sich überm Penis spannt.
Schweine! denkt er: Wartet! Nichts anderes!
Sommer stößt die Tür auf, knipst das Licht an. Die kahlen Glühbirnen leuchten jeden Winkel aus.
‚Achtung!‘, brüllt der Barackenälteste mit verschlafener Stimme und zusammengepressten Augenlidern und springt aus dem Bett.
Die Insassen lassen sich aus den Bettkästen fallen, fangen den Sprung mit wackligen Beinen ab, richten sich auf und stehen stramm. Einige halten das Gesicht nach unten, lassen die Lider geschlossen, und in den hinteren Reihen stützen sich andere gegenseitig mit den Schultern ab.
‚Welche Sau wagt es, hier nicht zu pennen, verdammtes Pack, elendes!‘, schreit Sommer: ‚Sind euch fünfzehn Stunden Steine schleppen noch nicht genug?‘
Die meisten Insassen zählen stumm Zahlenkolonnen herunter. Sie sind seit fast vierzehn Monaten im Lager und für den Rüstungsbau in der neuen Fabrik eingeteilt.
Sie müssen Panzerkettenplatten zusammennieten und diese tonnenschweren Ketten auf Waggons hieven. Die Norm liegt bei einhundert Panzerketten pro Tag, aber trotz größter Mühe schaffen sie nie mehr als die Hälfte. Sie werden gepeitscht, geschlagen, getreten und auch mal mit heißen Kartoffeln gelockt, doch die Norm bleibt unerreichbar. Sie ist mit voller Absicht vom SS Kommandanten Koch ins Unmögliche gesteigert worden.
Die Verladebretter zu den Waggontüren sind steil gelegt, und immer wieder rutschen Ketten mitsamt Männern herunter. Ständig werden Gliedmaßen zerquetscht, abgerissen und Knochen gebrochen.
Es gibt Männer, die jenseits der Erschöpfung die Köpfe unter die rutschenden Ketten werfen und am ganzen Leib zuckend sterben, und es gibt Männer, die nie richtig zupacken, darauf bedacht bleiben, Kraft zu sparen, ständig Kraft zu sparen. Männer, die schon als Jungs im Musikunterricht nur die Lippen bewegt haben, wenn im Chor gesungen wurde.
‚Arschbande!‘, schreit Sommer die Angetretenen an.
Einige Insassen wanken, andere schlafen sogar wieder ein und müssen vom Nachbarn hochgerissen werden.
‚Ich lass euch allesamt durch den Schornstein wandern!‘
Sommer geht auf die Insassen zu, zieht einen Stock aus dem Gürtel und prügelt wahllos auf die erste Reihe der Strammstehenden ein. Für ihn sei jeder Schlag wie ein Stoß aus der Hüfte, hatte er geprotzt. Lachend schlägt er
Weitere Kostenlose Bücher