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Letzte Instanz

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Titel: Letzte Instanz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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sah ich das Haus — hoch, massiv und bis auf die
Sicherheitsbeleuchtung schwarz wie ein Grab. Nichts bewegte sich hier, nicht
einmal ein Vogel im Efeu.
    Genauso mußte es gewesen sein in jener
Juninacht vor sechsunddreißig Jahren. Und durch das Dunkel, den Nebel, war ein
Mörder gegangen, so wie jetzt ich.
    Ich ging um das Haus, sah kurz zu den
Gauben im zweiten Stock hinauf und fragte mich, an welchem Fenster dort oben
wohl Judy gestanden und sich gefürchtet hatte vor dem Wesen, das sich unter ihr
im Dunkeln bewegte. Ich glaubte ihren bruchstückhaften Erinnerungen — da war
nichts übertrieben. Sie hatte jemanden gehört, etwas gesehen. Vielleicht war
sie Zeugin eines so schrecklichen Ereignisses geworden, daß sie sich unbewußt
zwang, es zu vergessen.
    Hinter dem Haus befand sich eine mit
Schieferplatten belegte Terrasse mit einer Mauer zur Klippe hin. Ich überquerte
sie und stützte mich mit den Handflächen auf die Mauer. Unten rollte die
Brandung gegen zerklüftete Felsen. Rechts von mir, wo halbmondförmig China
Beach lag und dahinter die Träger von Golden Gate standen, war nur Nebel. Ich
wandte mich wieder um und ging zu der Stelle, wo das Taubenhaus gestanden
hatte.
    Es machte nichts, daß es nicht mehr da
war. Es machte nichts, daß ich nicht genau wußte, wo es gestanden hatte. Ich
ging weiter. Das Gelände hatte zunächst ein leichtes Gefälle, wurde dann aber
eben. Nach etwa fünfzehn Metern fiel es steil zum Meer ab — eine Felswand,
bewachsen von zähen Monterey-Kiefern. Irgendwo auf dem flachen Stück davor
mußte...
    Ich stieß mit dem Fuß gegen einen Stein,
und trotz der Schutzkappe an meinem Turnschuh schoß mir ein Schmerz in den Zeh.
Ich fluchte, humpelte ein wenig, dann ging ich in die Hocke und tastete den
Boden mit den Händen ab. Ein gerundetes Fundament. Ich hatte die Stelle
gefunden, an der Cordy gestorben war.
    Ich blieb eine Weile mit geschlossenen
Augen stehen und lauschte dem Schlag der Wellen, dem Rauschen des Windes in den
Zweigen, dem klagenden Tuten der Nebelhörner. Vor meinem inneren Auge tauchten
Bilder auf, Alpträume. Ich öffnete die Augen und schüttelte den Kopf. Was tat ich überhaupt hier?
    Ich beachtete die Frage nicht und
kniete mich neben das Fundament. Noch einmal berührte ich es vorsichtig. Ich
dachte an Cordy. Dachte an sie alle: an Lis und Vincent Benedict, ihre kleine
Tochter Judy. An Louise Wingfield, Russell und Leonard Eyestone, Melissa
Cardinal, Joseph Stameroff. Und an Roger Woods, auch wenn er wahrscheinlich nie
hier gewesen war. Und auch an Rogers Vater Larry, der den konservativen Kräften
die Stirn geboten und seinen letzten Atemzug in einem Pflegeheim in L. A. getan
hatte...
    Und wieder dachte ich an Cordy.
    Soviel Blut. Soviel Schmerz. Was trieb
einen Menschen an, anderen soviel Schmerz zuzufügen? Die üblichen Gründe —
Angst, Wut, sogar Haß — reichten für eine Erklärung nicht aus. Wahnsinn? Der
unkontrollierbare Schub einer Psychose? Das gab es heute, aber in den
Fünfzigern? Gut, Ungeheuer hat es immer schon gegeben. Doch was für ein Monster
schändet einen Menschen auf diese Weise, bahrt das Opfer dann auf, verschließt
ihm die Augen mit zwei Pennystücken?
    Ich bekam die Gewalttat und die
rituelle Handlung nicht auf einen gemeinsamen Nenner.
    Und der Finger. Guter Gott, der
Finger...
    Ich kniete lange auf dem kalten Boden,
die Hände auf das bewachsene Fundament gestützt. Und wieder dachte ich an alle,
die jeder für sich ebenfalls zu Opfern geworden waren. Und zu Tätern.
    Auch wenn ich hier keine endgültigen
Antworten gefunden hatte, spürte ich doch, daß ich den Zweck meines Kommens
erreicht hatte. Schließlich stand ich auf und wischte mir die Hände ab. Ich
wandte mich um und ging.
     
     
     

25
     
    Im Haus von Chavez war Licht. Ich
stellte meinen Wagen direkt davor ab, stieg die brüchigen Eingangsstufen hinauf
und klopfte. Eine dickliche Frau in Jeans und Hawaiihemd öffnete. Nein, sagte
sie, Enrique sei nicht daheim.
    »Wann erwarten Sie ihn zurück?«
    Sie lächelte, als hätte ich einen Witz
gemacht. »An einem Freitagabend — wer weiß das schon? Meine Jungs kommen und
gehen, wann sie wollen. Meistens gehen sie.«
    Ich bedankte mich und wollte mich gerade
umdrehen, als ein Motorrad um die Ecke kam. Mrs. Chavez sagte: »Da ist er.«
    Das Motorrad hielt vor meinem Wagen.
Der Fahrer stieg ab und warf einen neugierigen Blick auf den MG, als habe er
ihn zuvor schon einmal gesehen und wolle ihn einordnen. Dann sah er

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