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Letzter Akt in Palmyra

Titel: Letzter Akt in Palmyra Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lindsey Davis
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ich spürte die stark gestiegene Anspannung in ihm.
    »Wer ist das?« zischte ich.
    Aus Gründen, die ich erraten konnte, brachte der junge Mann kaum eine Antwort heraus. »Der Bruder«, sagte er. Und jetzt wußte ich, daß er starr vor Angst war.

IX
    Ich stand auf.
    Wie die meisten Nabatäer war der höchste Minister Petras kleiner und schmächtiger als ich. Er trug die übliche knielange Tunika mit langen Ärmeln, darüber einen Umhang aus feinerem Material, der über den Armen zurückgeschlagen war. Daher konnte ich den glitzernden Gürtel sehen, in dem ein Dolch steckte, dessen großer Rubin im Knauf kaum Platz für verschlungene Ziselierungen ließ. Der Mann hatte eine hohe Stirn und schütteres Haar unter dem Kopfschmuck; sein Auftreten war energisch. Der breite Mund schien freundlich zu lächeln, doch darauf fiel ich nicht herein. Er sah aus wie ein freundlicher Bankier – einer, der fest entschlossen ist, dich bei den Zinsen kräftig übers Ohr zu hauen.
    »Willkommen in Petra!« Er hatte eine tiefe, volltönende Stimme und sprach Griechisch.
    »Vielen Dank.« Ich versuchte, so gut es ging, wie ein Athener zu klingen – nicht einfach, wenn man sein Griechisch unter einer zerrissenen Plane an einer staubigen Straßenecke neben dem Abfallhaufen des Viertels gelernt hat.
    »Sollen wir uns ansehen, was Sie für uns gefunden haben?« Das klang wie eine Einladung, den Geschenkkorb des Onkels vom Land zu öffnen.
    Seine Augen verrieten ihn. Die Lider waren so tief herabgezogen und faltig, daß in dem dunklen, in die Ferne gerichteten Glimmern kein Ausdruck zu erkennen war. Ich mag Männer nicht, die ihre Gedanken verbergen. Dieser hatte das unangenehme Auftreten, das mich für gewöhnlich an einen bösartigen, verhurten Betrüger denken läßt, der seine Mutter zu Tode getrampelt hat.
    Wir gingen zu dem Kamel, das uns frech den Kopf entgegenstreckte. Jemand griff nach den Zügeln und beschimpfte es leise wegen seiner Respektlosigkeit. Zwei Männer hoben die Leiche einigermaßen sanft herunter. Der Bruder inspizierte sie, genau wie ich es zuvor getan hatte. Seine Art der Prüfung zeugte von Intelligenz. Die Leute hielten sich zurück und beobachteten ihn ernst. In der Menge entdeckte ich den älteren Priester aus dem Gartentempel, der allerdings keine Anstalten machte, mit seinem Kollegen, der jetzt hinter mir stand, Kontakt aufzunehmen. Ich versuchte mir einzureden, daß der junge Priester mich im Zweifelsfall unterstützen würde, aber das war wenig wahrscheinlich. Diese Geschichte mußte ich allein durchstehen.
    »Was wissen wir über diesen Menschen?« fragte mich der Bruder. Ich begriff, daß Erklärungen zu dem Fremden in mein Ressort fielen.
    Ich deutete auf die Schreibtafel an der Hüfte des Toten. »Vielleicht ein Gelehrter oder Schreiber.« Dann zeigte ich auf die Abschürfungen in dem breiten, etwas aufgedunsenen Gesicht. »Er ist eindeutig Opfer von Gewalt geworden, allerdings hat man ihn nicht zusammengeschlagen. Am Ort des Verbrechens lagen leere Trinkgefäße.«
    »Und es geschah am Hohen Opferplatz?« Der Ton des Bruders war nicht direkt verärgert, aber die sorgfältige Formulierung der Frage sprach Bände.
    »Offenbar. Scheint ein Betrunkener gewesen zu sein, der sich mit seinem Freund gestritten hat.«
    »Sie haben die Männer gesehen?«
    »Nein. Aber ich habe Stimmen gehört. Sie klangen freundlich. Ich hatte keinen Grund, hinter ihnen herzulaufen und Fragen zu stellen.«
    »Welchen Zweck verfolgten Sie selbst mit dem Besuch des Opferplatzes?«
    »Ehrfürchtige Neugier«, gab ich an. Das klang natürlich wenig überzeugend und grob. »Mir wurde gesagt, das sei nicht verboten.«
    »Es ist nicht verboten«, bestätigte der Bruder, fand aber offensichtlich, daß es das sein sollte. Eine entsprechende Anordnung würde wahrscheinlich noch am selben Nachmittag von seinem Büro erlassen werden.
    Ich wollte die Sache beenden. »Mehr Hilfe kann ich Ihnen leider nicht anbieten.« Meine Bemerkung wurde überhört. Wenn in Rom ein Besucher aus dem Ausland dummerweise über einen Ertrunkenen im Fundanusbassin stolperte, würde man ihm für seinen Bürgersinn danken, ihm eine bescheidene Belohnung geben und ihn in aller Stille aus der Stadt geleiten – bildete ich mir zumindest ein. Vielleicht irrte ich mich. Vielleicht würde man ihn in das scheußlichste Gefängnis werfen, das zur Verfügung stand, um ihn zu lehren, die goldene Zitadelle nicht mit abscheulichen Entdeckungen zu schänden.
    Der Bruder, der

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