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Leuchtende Sonne weites Land - Roman

Titel: Leuchtende Sonne weites Land - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elizabeth Haran Sylvia Strasser
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zu mir. Du kannst das. Sieh nur mich an, sieh nicht nach rechts und nicht nach links und vor allem nicht nach unten. Und jetzt komm, okay?«
    Während der Junge sich langsam auf sie zubewegte, rief sie ihm die ganze Zeit Mut zu, ohne ihn auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Endlich erreichte er die andere Seite. Geoffrey sackte vor Erleichterung in sich zusammen. Er schämte sich entsetzlich.
    »Es tut mir leid, dass ich dir keine Hilfe war«, sagte er leise. »Ich bin neunzehn Jahre alt und ein erbärmlicher Feigling. Was musst du nur von mir denken!«
    »Geoffrey, du sprichst mit einer erwachsenen Frau, die sich vor ein paar harmlosen Hühnern gefürchtet hat. Ich werde mir ganz bestimmt kein Urteil über dich anmaßen.«
    »Bei dir ist das was anderes. Du bist eine Frau. Frauen dürfen Angst haben.«
    »Männer auch, Geoffrey. Wir sind Menschen, und Menschen haben Schwächen und Fehler.«
    Geoffrey sah auf. »Ich war es, der dich im Hühnerhof eingesperrt hat«, gestand er kleinlaut. »Ich fand es lustig, dass du solcheAngst vor den Hühnern hattest. Ich habe auch deine Wäsche mit Petroleum besprenkelt. Es tut mir so wahnsinnig leid, Jackie.«
    Jacqueline legte ihm eine Hand auf die Schulter und drückte sie liebevoll. »Du hast gedacht, ich will den Platz deiner Mutter einnehmen. Aber das war nie meine Absicht. Niemand kann das.«
    Geoffrey konnte sein Erstaunen nicht verbergen. Er hätte nicht gedacht, dass sie das verstehen würde. »Sie fehlt uns allen ganz schrecklich«, murmelte er, und seine Unterlippe zitterte. »Aber ich vermisse sie vielleicht noch mehr als die anderen, weil sie meine Ängste und meine Schwächen verstanden hat.« Als er das Mitgefühl in Jacquelines Augen sah, fügte er hinzu: »Aber vielleicht verstehst du das ja auch.«
    Sie nickte. Zum ersten Mal bekam sie eine leise Ahnung davon, was es hieß, Mutter zu sein. Sie bedauerte, dass sie diese Erfahrung wahrscheinlich nie machen konnte.
    »Mein Vater wird mich für einen Feigling halten«, stieß Geoffrey dumpf hervor. »Er wird ganz schön wütend werden, wenn er erfährt, dass ich schuld daran bin, dass du dein Leben aufs Spiel gesetzt hast.« Von Hass gegen sich selbst erfüllt, wandte er das Gesicht ab.
    »Red keinen Unsinn, Geoffrey. Dixie und mir ist nichts passiert, und der Widder ist gerettet. Alles andere wird deinem Vater egal sein.«
    Der Junge war nicht so überzeugt davon.
    »Aber wir haben ein Problem, Geoffrey. Wie kriegen wir den Widder nach Hause?«
    »An meinem Sattelknauf hängt ein Strick. Wir könnten den Widder anbinden und den Fluss an der Furt überqueren.« Er warf einen Blick zu seinem Pferd am anderen Ufer hinüber. Sofort verdüsterte sich seine Miene wieder.
    »Soll ich mit Dixie hinüberreiten?«
    »Nein, auf gar keinen Fall!«, sagte der Junge hastig. »Das Wasser ist noch weiter gestiegen. Ich will nicht, dass du dein Leben ein zweites Mal riskierst.«
    »Dann werde ich über den Baumstamm balancieren und den Strick holen.«
    Geoffrey riss die Augen auf. »Das kann ich nicht zulassen!«
    »Mir wird schon nichts passieren. Ich habe früher getanzt, weißt du, ich habe ein ausgezeichnetes Gleichgewichtsempfinden.«
    »Nein, Jackie, bitte nicht!« Nacktes Entsetzen stand in den Augen des Jungen.
    »Ich schaff das schon, glaub mir. Und du passt auf, dass der Widder nicht wegläuft oder ins Wasser zurückplumpst.« Schon kletterte Jacqueline auf den Baumstamm und richtete sich vorsichtig auf.
    »Komm zurück, Jackie«, bettelte der Junge. »Das ist viel zu gefährlich!« Wenn sie abrutschte und in den Fluss fiel, würde er nichts für sie tun können.
    »Keine Angst, ich bin gleich wieder da.«
    Jacqueline konzentrierte sich einen Augenblick, dann setzte sie bedächtig einen Fuß vor den anderen, die Fersen nach innen, die Fußspitzen nach außen gedreht, die Arme seitlich ausgestreckt. Ohne auch nur einen Augenblick innezuhalten, erreichte sie das andere Ufer.
    Geoffrey hielt unwillkürlich den Atem an. Als sie drüben angekommen war, ging sie zu seinem Pferd, nahm das Seil vom Sattelknauf, streifte es sich über den Kopf und über einen Arm und kletterte wieder auf den schlüpfrigen Stamm.
    »Sei bloß vorsichtig, Jackie«, schrie Geoffrey. Er hatte um sie fast so große Angst, wie er um sich selbst gehabt hatte.
    Jacqueline antwortete nicht. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit vollständig auf die Aufgabe gerichtet, die vor ihr lag. Fast anmutig überquerte sie den Fluss ein zweites Mal. Geoffrey

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