Leuchtende Sonne weites Land - Roman
wenig zu vertreten.
»Und wenn niemand mehr kommt?«, gab Tess ärgerlich zurück. »Also so habe ich mir den Start in unser neues Leben wirklich nicht vorgestellt.«
Sie hatte den Satz kaum ausgesprochen, als Jacqueline sie knuffte. »Schau mal, der Mann dort am Ende des Bahnsteigs wirkt irgendwie verloren. Ob der nach euch beiden Ausschau hält?«
Vera, die es gehört hatte, drehte sich um. Vor dem Fahrkartenschalter stand tatsächlich ein Mann, der mit sichtlichem Unbehagen in ihre Richtung blickte. Seinem Hut und seinen Stiefeln nach zu urteilen, konnte es sich schon um einen Farmer handeln.
»Hallo!« Vera winkte ihm zu. »Sie sind nicht zufällig wegen uns gekommen?«
Der großgewachsene, dunkelhaarige Mann in dem weißen Hemd und der Moleskinhose nahm seinen Hut ab und kam langsam näher. Er war schlank und breitschultrig und ging leicht gebeugt. Er machte einen nervösen Eindruck. Als er näher gekommen war, konnte man seine grauen Schläfen erkennen. Sein Gesicht war offen und liebenswürdig, aber er vermied es, den Frauen in die Augen zu sehen.
»Ich soll hier eine Miss Tess Westward und eine Miss Vera Clarke abholen«, sagte er gehemmt. »Sind Sie das?« Er war verwirrt, weil die Frauen zu dritt waren.
»Beinahe«, erwiderte Vera lächelnd. »Ich bin Vera Westward, und das ist Tess Clarke.«
»Oh, hab ich das nicht gesagt?« Sein Missgeschick war ihm furchtbar peinlich.
»Nein.« Vera schüttelte lachend den Kopf.
Froh, dass sie es so locker nahm, entspannte sich der Mann. Er lächelte schüchtern. »Ich bin Michael Rawnsley.«
Er gab Vera die Hand, aber Tess hielt ihre Arme vor der Brust verschränkt. Michaels Blick ruhte ungewöhnlich lang auf Vera, und sie wurde rot. Sie achtete bei einem Mann immer zuerst auf die Hände, und die von Michael waren groß, rau und schwielig. Offenbar arbeitete er hart, und das schätzte sie an einem Mann. Kleine Hände und einen schlaffen Händedruck konnte sie nicht ausstehen. Michael Rawnsley konnte also den ersten Pluspunkt für sich verbuchen.
»Freut mich sehr.« Vera lächelte ihn herzlich an.
»Ich hatte schon Angst, Sie hätten es sich vielleicht anders überlegt und seien gar nicht gekommen.«
»Wir warten seit einer Stunde hier«, fauchte Tess. »Sie können von Glück sagen, dass wir überhaupt noch da sind!«
»Tess!«, sagte Vera tadelnd. »Es gibt bestimmt einen guten Grund, weshalb Mr. Rawnsley sich verspätet hat. Nicht wahr, Mr. Rawnsley?«, wandte sie sich an ihn.
Er drehte verlegen seinen Hut in den Händen. »Ich habe erst am Nachmittag erfahren, dass Sie heute mit dem Zug ankommen. Ich habe mich sofort auf den Weg gemacht. Es tut mir wirklich leid, dass Sie warten mussten …«
Er war draußen bei den Schafen gewesen, als Donny Braddock vom Quorn Hotel kam und ihm mitteilte, die Agentur Cavendish habe angerufen, die Frauen kämen mit dem Spätnachmittagszugan. Als die beiden Männer sich noch kurz unterhielten, verplapperte sich Donny. Er hatte den Anruf bereits am Tag zuvor entgegengenommen, dann aber zu tief ins Glas geschaut und die Sache völlig vergessen. Und auf dem Weg zu Michael hatte er noch einen langen Schwatz mit Ben Dulton gehalten. Michael hatte ihn angeschnauzt und war eilig nach Hause zurückgekehrt zum Duschen, Rasieren und um sich frische Sachen anzuziehen. Als er losfahren wollte, sprang der Jeep nicht an. Dann, als der Motor endlich lief, war er in halsbrecherischem Tempo nach Port Augusta gerast.
»Das macht doch nichts, Mr. Rawnsley«, sagte Vera, die ganz hingerissen war von seinen blauen Augen. »Jetzt sind Sie ja da.« Sie warf Jacqueline einen triumphierenden Seitenblick zu. Michael Rawnsley sah gar nicht übel aus. »Das ist übrigens Jacqueline Walters. Sie wird auf Wilpena Station arbeiten.«
»Oh! Freut mich sehr, Miss Walters.« Michael schüttelte Jacqueline die Hand. »Da wird Ben aber froh sein. Seit dem Tod seiner Frau tut er sich ziemlich schwer so ganz ohne Hilfe auf der Farm.«
»Jacqueline, Mr. Rawnsley.« Sie kam sich wie eine Betrügerin vor, wenn sie mit »Miss Walters« angeredet wurde – schließlich war sie ja immer noch verheiratet.
»Und ich bin Michael, oder Mike, wie meine Freunde sagen.« Dass sie ihn auch Lanky Rawnsley, das »lange Elend«, nannten oder Red Eye Rawnsley, »Rotauge«, wenn er mal wieder einen über den Durst getrunken hatte, verschwieg er lieber.
»Schön. Dann kann’s jetzt ja losgehen«, meinte Vera, die es kaum erwarten konnte.
»Von mir aus gern.«
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