Leuchtendes Land
steckte mitten im Gewühl und konnte sich nur mit größter Mühe zur Rezeption durchkämpfen. Dort teilte man ihr schließlich mit, dass das Hotel vollkommen belegt sei und sie sich nach einer anderen Unterkunft umsehen müsse.
»Wo denn?«, fragte sie verzweifelt, doch niemand antwortete ihr. Dann bemerkte sie, dass auch die anderen Leute lautstark Zimmer verlangten und dem Empfangschef sogar Geld dafür boten.
Sie ließ sich auf einem Sofa an der Wand nieder und versuchte, das Baby zu beruhigen.
Ein Page trat auf sie zu. »Entschuldigen Sie, Madam, ist das Ihr Gepäck?«
»Ja. Ich hätte gern ein Zimmer, bitte.«
»Man hat Ihnen vermutlich bereits gesagt, dass kein Zimmer mehr frei ist. Das Gepäck steht im Weg.«
Sie stellte fest, dass ihr Korb, die Hutschachtel und zwei schwere Koffer die anderen Gäste in der Tat behinderten. »Geschieht ihnen recht, wenn sie darüber stolpern«, dachte Thora.
»Wenn es so ist«, erwiderte sie herablassend, »schieben Sie es besser zur Seite.«
»Ich rufe Ihnen eine Droschke. Dann werden Sie Ihr Gepäck nehmen und dieses Hotel verlassen«, entgegnete der Page.
Thora war schockiert. »Wie können Sie es wagen, mich hinauszuweisen? Wohin soll ich denn gehen? Gibt es in dieser Stadt noch andere anständige Hotels?«
»Keine, die am Samstagabend ein freies Zimmer hätten«, antwortete er gelassen. »Dürfte ich eine Pension vorschlagen?«
»Eine Pension!«, rief Thora entsetzt. Die einzige Pension in York beherbergte Wanderarbeiter! Sie brach in Tränen aus.
Der livrierte Page sah sich hilflos um und hoffte offensichtlich, dass kein anderer Gast dieses kleine Drama miterlebt hatte. Doch dann trat ein Gentleman auf sie zu und sah die weinende Frau an.
»Du lieber Himmel, Thora Price! Was ist denn geschehen?«
Thora schaute zu dem eleganten Herrn mit den grauen Schläfen und dem schmalen Schnurrbart empor. »Ich glaube, ich kenne Sie nicht, Sir.«
»Natürlich tun Sie das! Edgar Tanner, immer zu Diensten! Kann ich Ihnen behilflich sein?«
Nun erkannte sie ihn. Es war Mr. Tanner, der Bankdirektor aus York! Der seiner Frau davongelaufen war! Doch er wirkte viel weltmännischer und wohlhabender als früher. »Nun ja«, dachte sie, »in der Not …«
»Oh, Mr. Tanner, ich freue mich so, Sie zu sehen. Ich bin furchtbar in der Klemme.« Er hörte ruhig zu, während sie ihm ihr Herz ausschüttete, und unterbreitete ihr einen Vorschlag.
»Wir können Sie nicht mit der kleinen Miss Price in die Nacht hinausschicken. Thora, Sie können meine Suite haben.«
»Vielen Dank, aber das kann ich nicht annehmen. Wo wollen Sie denn schlafen?«
»Keine Sorge, ich ziehe zu jemand anderem. Wir sind alle gute Freunde hier.«
Wie von Zauberhand gelangte sie in seine Suite, deren Wohnzimmer und Schlafraum genau ihren Vorstellungen entsprachen. Tanner bestellte sogar ein Kinderbett und packte die notwendigen Dinge für die Nacht zusammen.
»Ich nehme an, Clem verdient gut«, bemerkte er.
»Ja, die Goldmine bringt gute Erträge. Es wurde auch Zeit. Ich hatte beinahe die Hoffnung aufgegeben.« Tanner hustete. »Ach, die Goldmine? Ich muss bei ihm vorbeischauen, wenn ich wieder auf die Felder zurückkehre.«
»Haben Sie Clem dort getroffen?«, wollte Thora wissen.
»Oh ja, mehrmals sogar. Ich habe ihn im Krankenhaus besucht, als er die Speerwunde auskurierte, und ihn auch danach noch des Öfteren getroffen, soweit es meine Zeit erlaubte.«
»Die was?«
»Hm, da bin ich wohl ins Fettnäpfchen getreten. Wussten Sie nichts davon?«
»Er hat sich nur am Arm verletzt.«
»Es war schon etwas mehr als das, aber jetzt geht es ihm wieder gut. Warum machen Sie und das Baby es sich nicht für die Nacht bequem? Sagen Sie den Mädchen, was Sie brauchen. Sie können Ihnen auch ein nettes kleines Abendessen heraufbringen.«
»Das wäre himmlisch! Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll.«
»Keine Ursache.« Er ergriff ihre Hand. »Alte Freunde sollten zusammenhalten. Warum essen Sie nicht morgen mit mir zu Mittag? Dann können wir alle Neuigkeiten austauschen.«
Thora war begeistert. »Sehr gern, aber das Baby …«
»Sprechen Sie mit den Mädchen, die werden schon jemanden ausfindig machen, der sich um das Baby kümmert. Darf ich Sie um ein Uhr abholen?«
»Ja, sehr gern.«
Als er gegangen war, schwebte Thora wie auf Wolken durch das geräumige Wohnzimmer. Endlich in der Stadt! So hatte sie sich das Leben in Perth vorgestellt. Sie wandte sich der nächsten wichtigen Frage zu:
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