Liberty: Roman
dieser Richtung.
Wir werden zu Katriina und den Mädchen eingeladen. Großes Familienabendessen. Solja zeigt Rachel einen Fotoband aus Schweden, der Katriina gehört, damit sie den Leuten zeigen kann, wie ihr Heimatland aussieht: schneebedeckte Berge mit Felsen und romantischen Holzhäusern, sommergrüne Wälder mit wehenden Fahnen, Maibäume und Boote in den Schären, das alte hübsche Stockholm und Dörfer mit frisch gestrichenen Holzhäusern und lächelnden blonden Kindern – eine reine Touristenbroschüre. Ich sitze neben Rachel auf dem Sofa. Sie zeigt auf das Bild mit den Häusern: »Habt ihr in Dänemark auch so ein Haus in einem Dorf?«
»Ich habe kein Haus in Dänemark.«
»Nein, aber die Familie?«, fragt sie. Ich erkläre ihr, dass die Häuser in Dänemark anders aussehen und meine Eltern ihr Haus verkauft haben, bevor sie nach Afrika gingen. Mutter wohnt noch immer in Genf, und mein Vater muss sich ein neues Haus kaufen, wenn er zurückkehrt. Und dann bemerke ich den Blick meines Vaters – ist es Abscheu oder Entsetzen? Ich sage nichts. Verdammt, wieso will er, dass Rachel nichts davon weiß? Mist. Er geht in die Küche.
Wir essen. Solja flucht über Eltern, ihre eigenen und im Allgemeinen. Sie beschimpft sie, sie hat keinen Respekt vor ihnen. Sie will einfach weg; sobald sie die ISM beendet hat, will sie das Land verlassen, am liebsten in die USA . Sie möchte Biologie studieren, aber vor allem will sie weg, sie erträgt diese Umgebung nicht mehr. Sie könnte Samantha sein. Aber in einer klügeren und nachdenklicheren Ausgabe.
Nach dem Abendessen sitzen mein Vater und ich mit Drinks und Zigaretten auf der Veranda. Er hat zugenommen, aber das erwähne ich nicht. Frage ihn stattdessen, ob er mir ein bisschen Geld leihen kann.
»Christian, wenn du hier nicht zurechtkommst, solltest du nach Hause fahren, finde ich«, antwortet er.
»Wo ist das? Zu Hause?«
»Hör schon auf.«
»Nein. Ihr habt mich hierhergeschleppt. Ich habe kein Leben in Dänemark. Es sagt mir einen Scheiß.«
»Du sollst lediglich das Gymnasium beenden, dann kannst du sehen, wozu du Lust hast. Eine Ausbildung ist wichtig.«
»Und was wird aus Rachel und Halima?«
»Na ja …«, sagt er und hält inne. Er hat keine Antwort darauf.
»Ich habe dich gefragt, ob du mir ein bisschen Geld leihen kannst, bis ich wieder in Gang gekommen bin?«
»Du kannst dir etwas leihen, aber lass es nicht zur Gewohnheit werden.«
Am nächsten Tag mietet Vater einen großen Land Rover, und wir fahren alle zusammen zum Tarangire National Park. Unglaublich, aber wahr: Zum ersten Mal in ihrem Leben sieht Rachel die wilden Tiere ihres Vaterlands.
Rogarth besucht mich – lächelnd kommt er auf die Veranda zu, zusammen mit Rachel, die in der Stadt eingekauft hat, bevor ich aufgestanden bin. Ich würde sie gern trösten, mit ihr ins Bad gehen, zwischen kühlen Laken liegen und sie liebkosen, weil ihr unsere Situation solche Sorgen gemacht hat. Aber sie braucht keinen Trost, es tut ihr nicht leid. Zielbewusst. »Ich habe es beantragt«, erzählt sie. Was meint sie? »Die Scheidung. Und jetzt koche ich euch was.« Sie geht in die Küche. Rogarth lächelt noch immer.
»Ja?«, sage ich.
»Ich habe den Ort gefunden.«
»Okay – und wo?« Er schüttelt den Kopf.
»Du musst es dir ansehen.« Nach dem Essen lasse ich ihn das Motorrad fahren. Wir fahren zum YMCA -Kreisel, dann in Richtung Golden Shower. Er bremst an der Abzweigung rechts nach Majengo und biegt links ab – langsam –, durch einen Graben, über ein Feld bis zu einem Bauplatz. Mauerbrocken, Baumstümpfe und zerbrochene Ziegelsteine liegen herum. Royal Crown Hotel steht auf einem Schild. Eine weiße Mauer mit einem geschwungenen Eingangsbereich wie bei einer mexikanischen Hazienda. Ganz neu. Er hält an, wir steigen ab. Gehen hinein. Das Hotel ist vollkommen leer, funkelnagelneu, keinerlei Aktivität – merkwürdig, dass mir der Bau nie aufgefallen ist, ich fahre diesen Weg mehrmals in der Woche. Es ist ein vierflügeliges, einstöckiges Gebäude, mit einem Dach über dem gefliesten Hof. Dort stehen Stühle und Tische – der Speisebereich. Zwei Flügel enthalten die Zimmer. In dem Trakt gegenüber dem Eingang gibt es eine Bar, und in einem der Seitenflügel sind Küche und Gästetoiletten untergebracht. Keine Menschenseele ist hier.
»Hast du mit dem Besitzer gesprochen?«, frage ich gedämpft. Rogarth schüttelt den Kopf.
»Aber ich weiß, wer es ist«, sagt er. Die Location ist absolut
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