Liberty: Roman
Christian«, antwortet sie und wendet sich wieder Katriina zu. Vater sitzt zusammen mit Miriam und John von der TPC am Tisch. Ich gehe hinaus. Ich habe keine Zigaretten. Eine norwegische Familie ruft nach ihrer Tochter. Sie ist in meinem Alter und geht in die Parallelklasse.
»Wir fahren jetzt«, erklärt die Norwegerin entschieden. Der Mann sagt nichts. Ich überlege, ob ich sie um eine Mitfahrgelegenheit bitten soll, aber die norwegische Frau würde ganz sicher meine Mutter um Erlaubnis fragen, und Mutter würde Nein sagen. Ich will einfach weg von diesem Durcheinander, runter zu Marcus. Ich laufe über den Driving Range der Golfspieler, der direkt vor dem Club liegt. Schon bald bin ich von der Dunkelheit eingehüllt. Finde meinen Weg zwischen ein paar Bäumen und überquere die Golfbahn auf der anderen Seite, bis ich das Gebüsch an der Kilimanjaro Road erreiche. Ich gehe ganz außen auf dem Seitenstreifen, damit das Licht der Straßenlaternen mich nicht erreicht – hier riecht es nach Kuhfladen, die die Rinder der Massai fallen lassen, wenn sie zum Schlachthof auf der anderen Seite der Stadt getrieben werden.
Ich erreiche die Rombo Avenue und gehe zum Tor.
»Wache?«, rufe ich. Er kommt. Ich frage, ob Jonas da ist? Nein. Marcus?
»Ja, er ist bei den Kindern«, sagt der Wachmann und lässt mich herein. Das Haus liegt im Dunklen, es gibt noch immer keinen Strom. Ich gehe zur Eingangstür an der Veranda. Solja liest bei Kerzenlicht am Küchentisch. Mama Brian sitzt mit Annemette in der Babytragetasche im Wohnzimmer.
»Marcus ist in der Küche«, sagt Solja. Ich gehe durch das dunkle Haus. Es riecht nach gebratenem Hühnchen. Auf dem Rasen vor der Küchentür steht Marcus im Schein der glühenden Holzkohle in einer aufgeschnittenen Öltonne; der Grill liegt voller Hühnerschenkel und Mais. Es spritzt und qualmt, wenn die Barbecue-Soße auf die Glut tropft.
»Hej, Marcus.«
»Hej«, grüßt er zurück und sieht mir über die Schulter. »Seid ihr zurück?«
»Nur ich. Bin gelaufen. Was machst du?«
»Ich muss das Fleisch braten, wenn der Kühlschrank tot ist – sonst verdirbt es. Wo sind die erwachsenen wazungu ?«
»Im Club. Nur Jonas und Asko sind gefahren, weil Katriina etwas über junge Hausmädchen gesagt hat.«
Marcus schüttelt den Kopf. »Was hat sie gesagt?«
»Sie hat zu Göstas Frau gesagt, sie soll ein altes hässliches Hausmädchen einstellen, damit Gösta keine Lust bekommt, sie zu vögeln.«
»Das stimmt.«
»Worüber redet ihr?« Solja ist aus der Küche gekommen und steht hinter dem Moskitonetz der Tür in der Dunkelheit.
»Über nichts«, sagt Marcus. »Hast du Hunger?«
»Also über meine bescheuerten Eltern.« Solja kommt die Treppe herunter.
»Ja«, sage ich zu ihr. Und zu Marcus: »Ich habe jedenfalls Hunger.«
»Holt ein paar Teller«, fordert er uns auf.
Sonntag. Die Alten sind im Wohnzimmer. Ich sitze auf der Veranda und gucke in die Luft. Annemette krabbelt auf dem Rasen herum, und mama Brian sitzt ein paar Meter von ihr entfernt in der Hocke. Der Gärtner Benjamin hat frei – ich glaube, er ist unten in der Dienstbotenwohnung. Mutter ist empört. »Glaubst du wirklich, Jonas hatte etwas mit dem Hausmädchen? Könnte es nicht sein, dass sie …?«
»Ich glaube, es stimmt«, sagt Vater.
»Aber … wieso denn?«
Vater seufzt. »Bevor du gekommen bist, hat Christian etwas gesehen«, erzählt er. Mir läuft es kalt den Rücken hinunter.
»Christian?«
»Ja.« Vater berichtet von dem schaukelnden Land Cruiser auf der Straße hinter Larssons Grundstück. »Solja hat in den Wagen geguckt. Sie hat ihren Vater gesehen, zusammen mit … mit einer Hure. Christian hat es auch gesehen.«
»Wieso hast du mir nichts davon erzählt?« Mutters Stimme klingt schrill.
»Ich wollte dich nicht beunruhigen.«
»Beunruhigen? Was denkst du dir eigentlich? Er ist doch nur ein großer Junge, er darf so etwas doch nicht sehen«, sagt Mutter.
»Passiert ist passiert«, erwidert Vater.
»Und was hast du unternommen?«
»Gar nichts. Was hätte ich denn tun sollen?«
»Machst du so etwas auch?«
»Nun beruhig dich aber mal wieder.«
»Okay … oh«, knurrt Mutter. »Es ist so sonnenklar. Jonas ist ein Kerl, der seinem eigenen Schwanz hinterherläuft.«
»Ja«, sagt Vater. »Es gibt Menschen, die jegliches moralische Fundament verlieren, wenn man sie der sozialen Kontrolle entzieht.«
»Was meinst du?«
»In Schweden würden die Kollegen, Nachbarn und seine Familie ihn im Auge behalten
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