Licht und Dunkelheit
und sie fühlte Ruhe und Gelassenheit in sich. Nicht die Aussicht auf den Tod machte ihr Angst, sondern das Leben – ein Leben als Gefangene auf der Festung des hohen Lords.
Der Abend mit den Männern am Feuer hatte Levarda versöhnlich gegen ihre Cousine gestimmt. Um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, hatte sie ihrerseits die Soldaten nach dem Leben auf der Festung ausgefragt.
Sie nahm Lady Smiras Nachtgetränk aus Melisanas Hand, um es ihr selbst ans Bett zu bringen. Melisana, die von der Anstrengung der Reise dunkle Ränder unter den Augen hatte, überließ es ihr dankbar.
Erst ignorierte Smira sie bockig. Levarda erzählte ihr jedoch von der Festung des hohen Lords, den prachtvollen Räumen und den Festlichkeiten, die dort regelmäßig stattfanden. Sie schilderte die Ankunft von ausländischen Botschaftern und deren Begleitung, beschrieb die Geschenke, von denen die Männer der Garde mit glänzenden Augen erzählt hatten. Sie berichtete von exotischen Tieren, die im Park herumstolzierten, von der Stadt mit ihrem Markt und den Händlern, die Waren feilboten, die es sonst nirgends im Land gab, erzählte über Köstlichkeiten, die nur von den Köchinnen am Hof des hohen Lords auf den Tisch gezaubert wurden.
Lady Smira hing an ihren Lippen. Die müden Falten verschwanden aus ihrem Gesicht und in ihre Augen trat ein Glanz, wie ihn Levarda von der Zeit her kannte, als sie ihr zum ersten Mal begegnet war. Sie stand auf, machte einen zweiten Kräutertrank in einer Kanne, die sie zusammen leerten, während sie weitere Geschichten vom hohen Lord zum Besten gab.
»Ich frage mich, wie er aussehen mag«, seufzte Lady Smira und sank mit träumerischen Augen in die glänzende Zukunft, die vor ihr lag.
»Nun, er ist nur vier Jahre jünger als Euer Vater, und dennoch erzählt man sich, dass er eine recht angenehme Erscheinung sei«, erklärte Levarda vorsichtig.
»Außerdem ist er äußerst gebildet und weitsichtig«, fügte Lady Smira hinzu. Sie drehte sich auf die Seite, stützte ihren Kopf auf die Hand und sah Levarda mit ihren großen blauen Augen an.
»Das hoffe ich. Immerhin ist er für eine Vielzahl von Menschen verantwortlich«, erwiderte Levarda ernst.
»Ja, er ist mächtig.« Lady Smira drehte sich wieder auf den Rücken. »Und bald bin ich die mächtigste Frau in diesem Land«, flüsterte sie.
Die letzten Worte verursachten Levarda eine Gänsehaut. Nachdenklich betrachtete sie ihre Cousine, in deren Augen sie den Traum von Reichtum, Macht und Anerkennung sah. In Levardas Heimat konnte eine machtvolle Stellung nie durch Reichtum, Geburt oder Aussehen erreicht werden. Bei ihrem Volk entschieden die Weisheit eines Menschen, die Reinheit seiner Taten und Handlungen, sein Charakter und seine Tugenden darüber, wie viel Macht jemand zugesprochen bekam. Und selbst dann war es nur die vom Volk geliehene Macht.
Was passierte, wenn eine solche Macht, wie sie die Frau des hohen Lords erhielt, so einem jungen Mädchen in die Hände fiel? Verdarb sie ihren Charakter oder würde sie sich der Verantwortung bewusst werden und sich der Bürde nach und nach als würdig erweisen? Verglichen mit der des hohen Lords, fiel die Macht seiner Frau vielleicht nicht allzu sehr ins Gewicht.
»Ihr seht mich so nachdenklich an, Levarda. Seid Ihr mir noch böse wegen der Züchtigung?« Eine leichte Röte huschte über ihr Gesicht.
Als Levarda weiter schwieg, setzte sie sich auf und faltete die Hände übereinander. Sie machte eine ernste Miene und erklärte: »Meine Mutter sagte immer, dass ich ein Vergehen meiner Dienstboten scharf bestrafen muss, sonst denken sie, ich sei schwach.«
»Ich bin aber nicht Euer Dienstbote, vergesst das nicht.«
»Aber eine Lady seid Ihr auch nicht.«
Levarda nickte bedächtig. »Das stimmt, ich bin keine Lady, ich bin eine Frau und Eure Cousine. – Genug geredet. Abgesehen davon halte ich Euch nicht für schwach, sondern für mutig. Schlaft jetzt.«
Gefügig kuschelte sich Lady Smira in ihre Decke. Levarda löschte das Licht und fragte sich kopfschüttelnd, wie dieses junge Mädchen sie einerseits in die Position einer Dienerin drängen wollte, auf der anderen Seite aber gehorsam ihren Anweisungen folgte wie ein Kind seiner Mutter. Sie hörte Melisanas tiefe Atemzüge und das leise Schnarchen von Lina. Levarda mochte weder das seltsame Bett noch den Geruch im Zelt. Sie zog ihr Nachthemd an, nahm sich ihr Fell und die Decken. Ihr fiel ein, dass dies alles war, was sie noch besaß. Eine
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