Lichterspiele
Mrs. Ryan, „daß Sie wirklich schwimmen waren.“
„Nicht richtig. Ich bin bloß reingegangen und wieder raus. Die Wellen waren riesig.“
„Aber holen Sie sich denn nicht einen furchtbaren Schnupfen? Das kann Ihnen nicht guttun.“ Sie wandte sich an Ben. „Sie werden doch nicht dulden, daß sie bei dieser Kälte schwimmen geht? Haben Sie denn keinen Einfluß auf Ihre Tochter?“
Ihr Tonfall war munter und scherzhaft. Sie fuhr fort, Ben aufzuziehen, aber Emma hörte nicht zu. Sie war zu sehr mit Schauen be schäftigt. Denn Mrs. Ryan war nicht alt und dick, sondern jung, schön und sehr attraktiv, und vom Scheitel ihres glatt frisierten goldblonden Kopfes bis zu den Spitzen ihrer glänzenden Pumps gab es kein einziges Detail, das nicht ungemein anziehend war. Ihre Au gen waren riesengroß und blau wie Veilchen, ihr Mund war voll und sanft und ließ, wenn sie lächelte wie jetzt, zwei vollendete Reihen gleichmäßiger weißer amerikanischer Zähne sehen. Sie trug ein sehr kleidsames Kostüm aus altrosa Tweed, Kragen und Manschetten mit gestärktem weißem Pikee eingefaßt. Diamanten funkelten an ihren Ohren, ihrem Revers, ihren tadellos manikürten Händen.
Sie hatte nichts Vulgäres an sich, nichts Aufdringliches. Selbst ihr Parfüm roch sanft und blumig.
„... daß sie sechs Jahre von Ihnen fort war, ist ein Grund, sich jetzt um so mehr um sie zu kümmern.“
„Ich kümmere mich nicht um sie... sie kümmert sich um mich.“
„Da spricht ein echter Mann...“ Ihre sanfte Stimme mit dem Südstaatenakzent ließ die Worte klingen wie eine Liebkosung.
Emmas Augen wanderten zu ihrem Vater. Seine Haltung war typisch für ihn, die Beine übereinandergeschlagen, der rechte Ell bogen auf dem Knie, das Kinn vom Daumen gestützt, zwischen den Fingern eine Zigarette, deren Rauch vor seinen Augen aufstieg.
Die Augen waren dunkel wie schwarzer Kaffee, mit tiefen Schat ten, und sie betrachteten Mrs. Ryan, als sei sie ein faszinierendes neues Lebewesen unter dem Mikroskop.
„Emma, dein Sherry.“
Es war Marcus. Sie riß ihre Augen von Ben los, und Mrs. Ryan wandte sich ihm erfreut zu.
„Oh, vielen Dank...“
Er setzte sich neben sie. „Hat Robert dir von der Vernissage er zählt?“
„Ja.“
„Bist du uns böse?“
„Nein.“ Und das war die Wahrheit. Einem so aufrichtigen Men schen, der sofort zur Sache kam, konnte man nicht böse sein. „Aber du möchtest nicht, daß er weggeht?“
„Hat Robert das gesagt?“
„Nein. Ich kenne dich nur sehr gut. Und ich weiß, wie lange du gewartet hast, um bei Ben zu sein. Aber es ist ja nur für kurze Zeit.“
„Ja.“ Sie sah auf ihr Glas hinunter. „Er geht also wirklich?“
„Ja, er geht wirklich. Aber erst Ende des Monats.“
„Aha.“
„Wenn du ihn begleiten möchtest...“ begann Marcus sanft.
„Nein. Nein, ich will nicht nach Amerika.“
„Macht es dir nichts aus, allein zu sein?“
„Nein. Ich hab nichts dagegen. Und, wie du gesagt hast, es ist ja keine lange Zeit.“
„Du könntest nach London kommen und bei Helen und mir wohnen. Du kannst Davids Zimmer haben.“
„Und wo schläft David dann?“
„Es ist so traurig, er ist im Internat. Es hat mir das Herz gebro chen, aber ich bin jetzt Engländer, und so wurde mein Sohn mir mit acht Jahren entrissen. Komm zu uns, Emma. In London gibt es eine Menge zu besichtigen. Die Tate Gallery hat umgehängt, eine Meisterleistung ...“
Emma mußte unwillkürlich lächeln.
„Worüber lächelst du, du schreckliches Kind?“
„Ich lache über deine Unverschämtheit. Du nimmst mir mit der einen Hand meinen Vater und bietest mir mit der anderen die Tate Gallery. Und“, fügte sie mit gesenkter Stimme hinzu, „niemand hat es für nötig gehalten, mir zu sagen, daß Mrs. Kenneth Ryan Schön heitskönigin von Süd-Virginia war.“
„Das wußten wir nicht“, sagte Marcus. „Wir hatten sie vorher nie gesehen. Sie ist vorgestern spontan nach England geflogen, in die Galerie Bernstein marschiert und hat gesagt, sie wollte zu Ben Litton, und da habe ich sie zum erstenmal zu Gesicht bekommen.“
„Es lohnt sich, sie zu Gesicht bekommen.“
„Ja“, sagte Marcus. Er schaute mit seinen traurigen Hundeaugen zu Mrs. Ryan hinüber. Er schaute zu Ben. Dann schaute er wieder in sein Martiniglas und berührte mit dem Zeigefinger den Zitronen schalenschnitz. „Ja“, sagte er noch einmal.
Die späte Ankunft im Speisesaal verursachte einigen Aufruhr. Der beste Tisch war für sie reserviert, der runde
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