Lichtgeboren - Sinclair, A: Lichtgeboren
Männer, die beim Prinzen gefunden wurden, auch tatsächlich die waren, für die du sie hältst? Die Zersetzung hinterlässt nur sehr wenig, nur Fragmente der Kleidung und des persönlichen Schmucks. Du gehst einfach davon aus, dass die Kleidung auch tatsächlich von denjenigen getragen wurde, von denen du es erwartet würdest.«
»Wenn es zu irgendwelchen Unregelmäßigkeiten gekommen wäre, hätte Hauptmann Parhelion sofort Alarm geschlagen. Und wenn er nicht an seinem vorgesehenen Platz gestanden hätte, wäre der Prinz oder sein Sekretär der Sache auf den Grund gegangen. Tam, das alles war Teil unserer täglichen Routine.«
Sein Mundwinkel zuckte. »Du glaubst, Helenja hat ihre Finger im Spiel?«
»Wäre Orlanjis an diesem Morgen mündig geworden, bestünde daran kein Zweifel. Aber den Prinzen jetzt abzusetzen und dafür Fejelis zu seinem Nachfolger zu machen ...«
»Du hältst Fejelis für untauglich?«, fragte Tam in neutralem Ton.
Im Grunde gar nicht mal so sehr, wie sie gedacht hatte, gestand sie sich ein, doch das änderte nichts an den Tatsachen. »Ich gebe ihm sechs Monate, höchstens, falls es zu keiner Krise kommt. Das bleibt aber unter uns, Tam.«
Der Magier wirkte in sich gekehrt. »Was hat man mit den Gemächern des Prinzen gemacht?«
»Die sterblichen Überreste wurden entfernt, und die Zimmer wurden von der Leibgarde des Prinzen und der Palastwache untersucht.«
»Und dennoch wollt ihr meine Hilfe?«
»Eine gemeinsame Untersuchung durch Wachen und Magier wurde bisher versäumt.«
»Ja«, sagte er bedächtig. »Das stimmt allerdings.« Er stand auf. »Ich will die Gemächer sehen.«
»Noch ist der Vertrag nicht unterzeichnet.«
»Unter Umständen könnten Mitglieder des Tempels darin verwickelt sein. Ich will die Gemächer sehen.«
»Magister.«
»Mistress Floria, nachdem du dich über Nacht im Palast aufgehalten hast, könntest selbst du darin verwickelt sein.«
Sie atmete hörbar aus. »Der Prinz wünscht, dass dein Einsatz in dieser Angelegenheit nicht bekannt wird, ehe der Vertrag zustande gekommen ist.«
»Das wird auch nicht geschehen. Aber bevor ich irgendeinen Vertrag unterzeichne, bevor ich meine Zustimmung gebe, will ich mir die Zimmer ansehen und mit dem Prinzen sprechen.«
Tammorn
Hoch oben im Turm der Magier lehnte Tam an einer Wand, um wieder zu Atem zu kommen, indes Magie an ihm zerrte wie ein Sturmwind vor der nächsten Bö. ›Ich bin es‹, sandte er aus, überflüssigerweise, denn der Magier, zu dem er wollte, wusste das bereits. Diese Höflichkeitsfloskel war lediglich ein weiteres Beispiel für Tams erdgeborene Angewohnheiten – wie das mühsame Treppensteigen, anstatt seine Kräfte zu benutzen und hinaufzuschweben – , die dazu führten, dass ihm der Tempel solches Misstrauen entgegenbrachte.
Allerdings war Magister Lukfer durchaus imstande, einen aufdringlichen Besucher den Schacht hinunterzustürzen – mit Absicht, aber auch ohne. Am Anfang ihrer Beziehung hatte er das mit Tam gemacht. Doch Tam kam schon bald zu dem Schluss, dass es nur so gemeint war, wie ein alter Bär es meinte, wenn dieser sein Junges mit einem kräftigen Knuff begrüßte, um dessen Mut zu testen, bevor er es ins Maul nahm, um sich dessen bärigen Geschmacks zu versichern. Es war eine Art Initiationsritual.
Nichtsdestotrotz machte er sich auf alles gefasst, als er die breite Bronzetür mit einem magischen Stoß öffnete. In Lukfers Gemächern war es fast genauso dämmrig wie in einer Bärenhöhle – beunruhigend für alle und schmerzhaft für viele, Tam eingeschlossen. Seine Augen richteten sich sofort auf die gegenüberliegenden Fenster, die mit nur halb lichtdurchlässigen Stoffen verhängt waren. Schwitzend durchquerte er den Raum, packte die Vorhänge und riss sie beiseite, sog das Sonnenlicht in sich auf. Erst dann war er in der Lage, den im Halbdunkel sitzenden Mann zu begrüßen.
Genau wie Tam war Lukfer ein Wildschlag, der in einem kleinen Wüstendorf unter Menschen aufwachsen musste, die sogar noch ärmer und ungebildeter waren als Tams Sippschaft in den Bergen. Doch im Gegensatz zu Tam, dessen Kräfte sich aus unerfindlichen Gründen nur sehr langsam entwickelt hatten, war Lukfer schon von Geburt an in der Lage gewesen, durch Berührung Gedanken zu lesen. Das Misstrauen seines direkten Umfelds, der Zorn und die Furcht der anderen hatten ihn bereits vor seinem vierten Geburtstag in den Wahnsinn getrieben. In der Obhut des Tempels hatte seine geistige Gesundheit zwar
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