Lichtpfade - Die Chroniken der Akkadier II (Gesamtausgabe)
stehen?“ Sie rieb sich die Nase und wurde sich der Nähe seines riesigen Körpers bewusst.
„Weil man ein geschlossenes Tor nur schwer passieren kann“, grunzte er.
Und während sie in der kalten Dunkelheit bei ihm wartete, musste die Halbgöttin unweigerlich an das letzte Mal denken, als sie beide in totaler Finsternis gestanden und sich geküsst hatten.
Der Sator bewegte sich hörbar. Seine Schuhe scheuerten über den sandigen Boden. Stoff raschelte. Und eine schwere, warme Jacke wurde um ihre Schultern gelegt. Sie roch nach Wald und Gewürzen. Jolina zog sie vor ihrer Brust zusammen und bedeckte ihre Blöße.
„Danke“, flüsterte sie mit gesenktem Kopf.
Er sagte nichts.
Ein metallisches Knarren erschütterte die Stille. Bolzen verschoben sich. Zahnräder drehten. Zwei Tore walzten über den Boden nach vorn und gaben Zentimeter für Zentimeter Ausblick auf das Innere der Stadt.
Als erstes erkannte sie warmes Licht. Vor ihnen tat sich eine gepflasterte Straße auf, die rechts und links von runden Laternen erhellt wurde und weiter vorn eine Rechtskurve vollzog. Aus Stein errichtete, hellgraue Häuser säumten den Weg. Munteres Treiben erfüllte den von Wolken verdunkelten Tag. Regen gab es keinen.
Daman stiefelte los. Jolina schob ihre Arme durch die Ärmel der abgewetzten Lederjacke, krempelte diese dreimal auf, schloss einen der vorderen Knöpfe und folgte dem Sator in seine Heimat.
Frauen und Kinder in farbenfrohen Kleidern kreuzten die Straße, trugen Körbe und Taschen in den Händen, lachten, winkten und grüßten einander. Allesamt sahen aus wie normale Sterbliche, besaßen weder Hörner noch eine verdunkelte Hautfarbe. Viele verneigten sich kurz vor Daman, schienen sich an seinem dämonischen Anblick nicht zu stören. Er entgegnete ihnen ein würdevolles Kopfnicken. Und auch Jolina wurde freundlich angelächelt.
Es gab verschiedene Ladengeschäfte, die Fleisch und Gemüse verkauften. Obst und Wein. Süßigkeiten. Schokolade. Im Grunde genommen alles, was es in der Götterstadt nicht gab. Auch das quietschende Lachen fröhlicher Kinder.
Die Ahne schaute nach oben und erkannte, dass der wasserfallartige Niederschlag von einer Art Schutzschild aufgehalten wurde. Als bedeckte das Tal eine gläserne Kuppel, rann der Regen in nassen Bahnen nach außen hinab.
Plötzlich fühlte Jolina eine zaghafte Berührung an ihrer rechten Hand. Sie schaute nach unten. Ein kleines Mädchen mit feuerrotem Haar verknotete ein aus Stoff geflochtenes Bändchen um ihr Handgelenk und strahlte sie mit einer deutlich sichtbaren Zahnlücke an.
„Doriena“, rief eine junge Frau von der anderen Seite der Straße. „Was machst du denn da?“ Sie lächelte Jolina entschuldigend zu und winkte ihre Tochter zu sich. Die grinste noch einmal zu der Halbgöttin auf und lief dann mit hopsenden Schritten zu ihrer Mutter.
„Danke!“, schaffte Jolina noch gerade zu sagen, bevor beide in einer Seitengasse verschwanden.
Sie betrachtete das Bändchen und strich über den handgewebten Strick. In Schwarz und Rot passte es perfekt zu ihrer Kleidung.
Jolina schaute geradeaus und blieb an Damans Augen haften. Er war ein paar Meter entfernt stehengeblieben und betrachtete sie mit einem eigenartigen Ausdruck. Nach ein paar Sekunden winkte er sie mit einem Kopfnicken zu sich und ging weiter.
Als sie zu ihm aufgeholt hatte, fragte er: „Welche Farbe hat es?“
„Das Bändchen? Rot und Schwarz“, entgegnete sie verwirrt.
Er schnaufte.
„Bedeutet das etwas?“
Der Sator warf ihr einen belustigten Blick zu und sah wieder geradeaus. „Ja.“
Jolina wartete. „Und was?“
Sein Grinsen wurde breiter. „Das würdest du mir eh nicht glauben.“
Sie betrachtete ihn mit Ungeduld. „Es ist nur ein Bändchen. Was soll das schon bedeuten?!“, sagte sie, mehr zu sich selbst.
„Genau!“, gab er ihr auf ironische Art und Weise Recht und nickte einer älteren Frau grüßend zu.
Die Halbgöttin schaute sich erneut um. „Ich hatte mir irgendwie etwas anderes vorgestellt.“
„Inwiefern?“
„Na ja.“ Sie überlegte und erinnerte sich an seinen Spruch mit den ums Feuer herumtanzenden Satoren. „Vielleicht weniger Ordnung? Mehr … rüpelhafte Männer?“
„So wie ich?“
„Du weißt, was ich meine.“
Daman lächelte. „Die Rüpel sind tagsüber arbeiten. Deswegen siehst du hier keine. Aber glaub mir“, er sah sie an, „es gibt sie!“
Jolina nickte skeptisch und folgte ihm nach links in einen weitläufigen Seitenweg,
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