Liebe auf den letzten Blick
»Zumal er mir sofort Unterschlupf angeboten hat. Doch als wir bei ihm ankamen, stand sein Badezimmer schon unter Wasser. Seine Wohnung ist unbewohnbar.«
»Ein Unglück kommt eben selten allein.«
»Du sagst es, Mathilde«, stimmt sie zu. »Na ja, und an einem Freitagabend bekommt man natürlich keinen Klempner. Erst für morgen bekam Fred eine definitive Zusage. Deshalb musst du dir jetzt mein Gejammer anhören.«
»Nicht doch«, lenke ich ein und schäme mich für meine alberne Eifersucht. Fred hat mir schließlich keine Hoffnungen gemacht. »Andere in deiner Lage würden sicher nicht so gelassen bleiben.«
»Vielleicht«, entgegnet sie leise und fängt an, zu weinen. »T-torsten … i-ist … ein … S-schwein …«, stammelt sie, und Sekunden später liegt sie schluchzend an meiner Schulter.
Ich spüre meine Augen unangenehm wässrig werden und bin kurz davor mitzuheulen.
»Wie viel schuldest du unserem Vermieter?«, frage ich, nachdem sie sich etwas beruhigt hat.
»Na ja, da sind erst mal drei Mieten à zwölfhundert Euro«, antwortet sie. »Zusätzlich sechsmal die Nebenkosten à zweihundert, da die Kaution ja nur dreitausend betrug.«
»Das sind viertausendachthundert«, rechne ich halblaut und blicke sie fragend an. »Und was noch?«
Sie atmet tief ein und trinkt einen Schluck Bier, als müsse sie sich stärken. »Dieser Halsabschneider verlangt inzwischen sechs Kaltmieten á eintausend, also sechstausend Euro als Kaution.«
»Wie bitte?«
»Ja, du hast richtig gehört. Insgesamt sind das nach AdamRiese zehntausendachthundert Euro. Der Hausherr meinte, dass er auf Mieter wie uns verzichten könne, aber der Kinder zuliebe und nur gegen eine höhere Kaution ließe er sich darauf ein, uns die Wohnung weiter zu vermieten.«
»Ein echter Kinderfreund«, schnaube ich erbost. »Er war mir schon bei der Besichtigung nicht besonders sympathisch.«
»Torsten und mir auch nicht«, stimmt Sophie mir traurig zu. »Aber was soll ich machen? In dieser Situation sitzt er am längeren Hebel und …« Sie wendet sich Nora zu, die im Schlaf leise quengelt. »Meine Eltern können mir dreitausend Euro leihen.«
»Dann fehlen dir für den Rest der Kaution und die Begleichung der Mietschulden noch knapp neuntausend Euro«, beende ich ihren Satz. »Die kann ich dir geben.«
Ruckartig dreht sie sich zu mir. »Mathilde!« Ihre Augen füllen sich abermals mit Tränen.
»Kein Grund zum Weinen«, versuche ich, ihren Ausbruch zu stoppen. »Mein Notfallgroschen ist für Notfälle wie diesen.«
»Aber du kennst mich doch gar nicht«, protestiert sie. »Warum solltest du mir so viel Geld leihen?«
»Natürlich kenne ich dich«, sage ich. »Du bist meine liebe Nachbarin aus der Dachwohnung, hast zwei süße Kinder und unterrichtest Kunst an einer Privatschule. Richtig?«
»Doch, doch«, versichert sie. »Trotzdem. Ich kann deinen Notgroschen nicht annehmen.«
»Warum nicht?« Herausfordernd sehe ich sie an. »Dafür ist er doch gedacht. Und sobald du den Kredit erhalten hast, zahlst du mir die Summe zurück, oder?«
»Selbstverständlich, Mathilde«, versichert sie und fällt mir um den Hals. »Das vergesse ich dir nie, nie, nie.«
Als sie mich schließlich loslässt, erhebe ich mein Bierglas. »Ach was, ist doch nur für ein paar Tage.«
»Also, wenn du es wirklich ernst meinst und den Betrag entbehren kannst, würde ich dein Angebot gern annehmen«, sagt sie, und wir stoßen an. Die Anspannung weicht aus ihrem mädchenhaften Gesicht, und sie sieht zum Glück nicht mehr ganz so traurig aus.
22
Babygeschrei weckt mich in den frühen Morgenstunden. Träge blinzle ich zum Wecker. Puh! Sechs Uhr dreißig. Im ersten Aufwachtaumel glaube ich noch, geträumt zu haben, dass aus unserer WG nun eine Großfamilie geworden ist. Bis ich nachrechne: Neun Bewohner sind wir nun, das Haus ist voll, und der Begriff Großfamilie ist wohl nicht mehr übertrieben.
Das Weinen ist verstummt. Ich beschließe, noch ein Weilchen weiterzudösen. Hoffentlich kann Sophie das ebenfalls. Sie hat es bitter nötig. So erschöpft wie sie gestern Nacht aussah, leidet sie unter chronischem Schlafmangel.
Kaum habe ich das Kissen zurechtgeknufft und die Augen wieder geschlossen, höre ich ein zartes Stimmchen meinen Namen flüstern.
»Mathinde?«
Einen Atemzug später spüre ich, wie mich jemand sachte antippt.
»Bist du waaach?«, flüstert er.
»Hmm«, murmle ich, drehe mich blitzschnell um und kitzle Luis am Bauch. Er quietscht vor Vergnügen,
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