Liebe auf eigene Gefahr Roman
Kleiderständer als Deckung bewege ich mich zentimeterweise vorwärts und folge dem Geschrei, das den Tenor und die Dringlichkeit einer Unfallstation besitzt. »ANDY, MEHR ROUGE!« »KÖNNEN WIR DAS MIT DEM ROUGE BITTE ÄNDERN?« »TAUSCH DAS ROUGE AUS!«
»Könnte mir jemand bitte mein Fiji-Wasser rüberwerfen?«, fragt eine Stimme. »Danke.« Sie ist gleichzeitig tief und irgendwie rauchig. Meine Augen füllen sich mit Tränen, und ich schaue zur pompösen Stuckleiste empor, die anzeigt, wo früher einmal die Decke war. Ich blinzle, bis ich wieder scharf sehen kann. Tief einatmen. Dann spähe ich um die Kulissenwand. John Norris, Eden Millay und Jake Sharpe sitzen in einer wilden, bärenklauenbestückten Blockhüttenversion von Jake Sharpes Kindheitswohnzimmer, wie MTV es sich anscheinend vorstellt. Jake Sharpe ist vielleicht fünf Meter von mir entfernt. Er sieht vertraut aus. Es sind nicht nur die Gesichtszüge des Siebzehnjährigen, die ich im Gesicht des Einunddreißigjährigen wiedererkenne. Es ist eine neuere Vertrautheit – die Beleuchtung, das Set, die Mikrofone,
die Kamera – das ist der Jake Sharpe, den ich kenne – von den Videos, die im Fitnessstudio laufen, von den Interviews, die ich zu Hause versehentlich einschalte, von den Zeitschriftentiteln, auf die mein Blick im Supermarkt fällt – es ist diese, diese … Person auf dem Präsentierteller, die ich erkenne.
Hinter ihm schüttet jemand von einer Leiter außerhalb des Bildes Waschmittelflocken über dem falschen Fenster in der falschen Wand aus und kreiert so eine ländlich-idyllische Weihnachtsszenerie, in die mit Sicherheit jeden Moment irgendein als Elch verkleideter MTV-Praktikant die Nase steckt.
»Ton ab. Wann immer du bereit bist, John.« Auf das Kommando des Regisseurs hebt Jake den Arm, und Eden schmiegt sich an ihn.
John nickt und reißt den Blick von seinen Karteikarten los, um in die Kamera zu blicken. »Wir sitzen hier mit zwei der gefragtesten Stars im Musikbusiness, Jake Sharpe und Eden Millay. Hallo, ihr zwei!«
»Hi, was geht ab, John?«, nickt Jake ihm zu.
»Frohe Feiertage«, wünscht Eden, und ihre Stimme klingt erstaunlich irdisch für jemanden, der einen so schmalen Brustkorb hat. In ihren karamellfarbenen Haaren spiegelt sich das künstliche Mondlicht.
»Zunächst einmal zu dir, Eden, du hast gerade einen wichtigen Geburtstag gefeiert, den ersten mit einer Vier davor, und MTV war bei den Feierlichkeiten am Red Rock Canyon vor Ort.« Jake ergreift ihre Hand, und der Spot prallt von ihrem hochkarätigen Diamantring ab.
»Es war großartig!« Liebevoll drückt sie seine Hand. »Dieser Ort ist wirklich etwas ganz Besonderes, das Land hat eine Energie, die man sonst nirgendwo spürt.«
»Sehr gut. An der Stelle zeigen wir, wie es hinter den Kulissen zuging.« John nimmt einen Schluck Kaffee aus seinem
Pappbecher. »Okay. Eden, du hast also gerade deine Welttournee zu deinem neuesten Album beendet, auf dem du zwölf Country-Klassiker neu aufgenommen hast. Eine ganz neue Richtung für dich«, kommt John höflich auf das Thema des finanziellen Fiaskos ihres Experiments zu sprechen.
Edens Lächeln strahlt Ruhe und Selbstsicherheit aus, während sie sich die welligen Haare aus dem herzförmigen Gesicht streicht. »Ja, ich weiß, es war ein Risiko, aber das ist nun mal die Musik, mit der ich groß geworden bin.« Als ihre Finger gegen die goldene Feder flattern, die ihr an einem Lasso um den Hals hängt, ist ihr straffer Bizeps im Schlitz ihres Blusenärmels zu sehen. Toll, na und? »Weißt du, ich bin unendlich dankbar für all die Möglichkeiten, die mir der Erfolg meiner ersten beiden Alben gebracht hat, aber ich spürte, dass es an der Zeit war, etwas Ehrlicheres mit meinen Fans zu teilen.«
John räuspert sich. »Und in Asien hast du ja wirklich alle Rekorde an den Konzertkassen gebrochen.«
»Ja, ich bin Big in Japan , sozusagen.« Sie lacht mit einer Bescheidenheit, die unleugbar gewinnend ist.
»Cut!«, ruft der Regisseur, worauf sich mehrere Personen ins Bild drängeln, um das Licht zu überprüfen.
Eine Kabelrolle wird mir in die zitternde Hand gedrückt. »Halt das!«, bellt mir der Holzfäller zu.
Johns Stimme verliert ihr Fernsehtimbre. »Also, Jake, an dieser Stelle blenden wir über zu einem Zusammenschnitt deiner Grammy-Dankesreden, deiner Earth-Day-Auftritte, deinem Oscar für den besten Filmsong und diesem ganzen Zeug, mit einem Kommentar, der deine Statistiken aufzählt, vierzig Millionen verkaufte
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