Liebe braucht keinen Ort
Liza sich noch einmal in der Wohnung um.
Ich wünsche dir ein glückliches Leben, Jasmine. Ein glückliches, glückliches Leben.
Dann zog sie die Tür leise hinter sich zu und folgte eilig ihrem eigenen Schicksal.
Als sie ankamen, begann der Himmel gerade ein wenig heller zu werden, obwohl der Sonnenaufgang sicherlich noch eine halbe Stunde auf sich warten lassen würde. Das Besucherzentrum war noch nicht geöffnet, aber innen brannte Licht. David ging zum Hintereingang und kam Minuten später mit zwei Eintrittskarten und einem Parkschein wieder. »Ich habe vor Prambanan ein paar Tage hier gearbeitet«, erklärte er, während er das Auto abschloss. Wie alle Autos in Java war es ein älteres Modell, eines der ersten pneumatischen Autos, die es gegeben hatte. Er streckte Liza die Hand entgegen. »Also, dann los. Auf geht’s.«
Sie konnte immer noch nichts sehen, nur dunklen Dschungel, ein Gelände, das auf allen Seiten nach unten abfiel. »Wo sind wir?«
»Das hier ist Borobudur«, antwortete er, »der größte buddhistische Tempel auf Java. Er wurde etwa um die gleiche Zeit wie Prambanan errichtet, vor über tausend Jahren. Beide Tempel sind teilweise durch ein Erdbeben zerstört worden, und dieses ganze Gebiet wurde verlassen. Bis Forscher im siebzehnten Jahrhundert durch Zufall wieder darauf stießen, wusste niemand, dass es die Anlagen überhaupt gibt.«
Liza dachte an die Menschen auf den Porträts an den Wänden von Prambanan, wie sie stumm tanzten, während der Dschungel auf sie zuwuchs, daran, dass ihre Gesichter und die Namen derer, die sie sich ausgedacht hatten, in Vergessenheit geraten waren. War so das Leben? Du lebst, du tanzt, du wirst vergessen?
Nein
, dachte sie mit einer plötzlichen Gewissheit.
Andere finden dich. Forscher kommen und entdecken dich. Menschen wie David graben deine Geschichte aus. Nichts, was du je getan hast, geht wirklich verloren.
»Kannst du den Tempel sehen?«, fragte David.
Liza schaute blinzelnd auf etwas, das in der Ferne einer Ansammlung von Schatten glich. Als sie näher kamen, erkannte sie, dass es sich um ein großes Gebäude handelte, das aus verschieden großen Lagen von dunklem Stein aufgetürmt war. Die Terrassen waren von Rissen durchzogen und uneben. Ganze Abschnitte schienen schief zu stehen. Verglichen mit Prambanan und seinen grasbewachsenen Pfaden und winzigen Tempeln wirkte Borobudur unfreundlich, düster und beinahe bedrohlich.
»Und was ist innen drin?«, fragte sie.
»Nichts. Es ist durch und durch aus massivem Stein.«
Das Gelände war noch nicht geöffnet. Also waren sie die einzigen Menschen auf dem Pfad, der zu dem riesigen, gespenstischen Gebäude führte. Es war ganz still. Nur das gelegentlicheKreischen von Affen war zu hören. Liza fragte sich, warum David sie hierher mitgenommen hatte, sagte aber nichts.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen, blieb David stehen, als sie den Fuß der Pyramide erreicht hatten. »Siehst du sie jetzt?«
Zunächst sah sie nichts, doch dann konnte sie in der trüben Dämmerung plötzlich etwas ausmachen. Von jeder Stufe, von den Ecken und Nischen und Geländern schauten Buddhas zu ihnen herab, Hunderte von Buddhas. Ihre heitere Gelassenheit verwandelte alles ringsum.
»Bist du bereit für den Aufstieg?«, fragte er.
»Können wir denn hinaufgehen?«
»Sicher, bis ganz oben. Mir nach.«
Wäre sie allein gewesen, Liza hätte auf jeder Stufe Stunden verbringen können, um die Statuen genauer anzuschauen und die in den Stein gehauenen Muster zu betrachten. Sie bemerkte, dass zwar alle Buddhas im Lotossitz saßen, ihre Hände aber viele verschiedene Posen einnahmen. Manche hielten im Gebet Handfläche an Handfläche, andere berührten die Erde, manche hielten Gegenstände, manche stützten eine Hand auf ein Knie und streckten die andere dem Besucher in einer Geste des Friedens entgegen. Liza wollte langsamer gehen und die vielen verschiedenen Figuren erkunden, aber David hatte einen festen Plan und drängte sie weiter und weiter nach oben.
»Perfekt«, sagte er, als sie auf der großen quadratischen obersten Terrasse angekommen waren.
Das Erste, was Liza erblickte, waren die ungewöhnlichen Gebilde, die aussahen wie altmodische Handglocken, wie sie ein Stadtschreier benutzt haben mochte, nur dass sie aus Stein und Ziegeln gemacht und viel höher als ein Mensch waren. Durch die vielen kleinen, rombusförmigen Öffnungen konnte Liza erkennen, dass in jeder Glocke ein Buddha war. Weitere Buddhassaßen in niedrigen
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