Liebe in groben Zügen
Sicherinnern an die große Zeit des Küssens. Seine Augen schienen nirgends mehr hinzusehen, etwas Abgeschlossenes lag in ihnen, als hätten sie nichts mit den Lippen an der Tasse zu tun. Schläfst du hier ein, fragte sie – es wäre nicht das erste Mal, dass er mit offenen Augen einschlief, es war ihm sogar schon in der Umarmung mit ihr passiert, wenn nur ein Teil von ihm noch aktiv war, als müsste es stur dem Gesetz des Lebens folgen, damit die Gattung nicht von der Erde verschwindet, auch wenn ihr Körper über diese Sache längst hinaus war. Und dann sagte er plötzlich, wie auf eine Frage nach seinen Gedanken, er habe vor x Jahren einmal mit dem schon alten Willy Brandt im selben Flugzeug gegessen, nur eine Reihe hinter ihm, und Brandt habe die ganze Zeit, eineinhalb Stunden lang, ein Gesicht gemacht, als sitze er allein in der vollen Maschine. Ich glaube, sagte Renz, diese Reise, egal zu welchem Zweck, hatte für ihn nicht mehr den geringsten Sinn. Nur für die beiden Beamten, die ihn bewacht haben, das war ihr Job. Seiner war getan. Aber er flog noch irgendwohin, um dort aufzutreten. Einfach, weil er noch am Leben war, so wie wir. Oder ist das zu negativ? Renz lachte und strich ihr über die Hand, er bestellte noch einen Espresso, einen für sie beide, und von ihr nicht etwa die Frage, warum er jetzt erst mit dieser Geschichte kam: natürlich weil sie ihn damals nicht hatte fragen sollen, wohin er geflogen sei, eineinhalb Stunden lang, und warum. Stattdessen teilte sie mit ihm den Espresso, er einen Schluck, sie einen Schluck, und sah dabei über den Platz. Eine Frau kam mit Kinderwagen aus einem der Häuser, sie schob ihn an den Palmen vorbei in Richtung einer Gasse, immer zu dem kleinen gebetteten Wesen gebeugt, auch Renz sah jetzt hin – eine Frau mit einzelnem Kind im Wagen, in Frankfurt schon eine Seltenheit. Überall jetzt die Doppelgefährte auf der Schweizer Straße, weil die Dinge ab vierzig nicht mehr von selbst gehen. Man kann noch ins Bett miteinander, aber es kommt dabei nichts mehr heraus, nichts, das am Ende länger als ein paar Herzschläge dauert, zehn, wenn es hochkommt, für alles darüber hinaus, alles Dauerhaftere, muss schon die Medizin her, muss die Spermien platzieren wie eine Anzeige: Hallo, Eizellen, Kind gewollt, ich nehme auch zwei in Kauf, nur um überhaupt eins zu kriegen. Fahren wir weiter? Renz strich ihr wieder über die Hand, und sie wusste, dass er keinen Willen mehr hätte weiterzufahren, den Wunsch ja, aber nicht mehr die Energie. Wir können Palermo auch canceln, sagte er, ich muss nicht in dieses Hotel. Weißt du, dass dein kleiner Finger etwas krumm wird? Er wollte den Finger massieren, aber sie zog die Hand zurück. Es war nicht seiner, es war ihr kleiner Finger, und sie wusste schon eine ganze Weile, dass er nicht mehr gerade war, ihre Mutter, die hatte am Ende nur krumme Finger, es gab auch ein Wort dafür, wie es für jede Krankheit eins gibt, bloß war sie nicht bereit, es auszusprechen, ja überhaupt von diesem Finger oder sonst etwas, das sich an ihr verändert hat, zu sprechen – Schweigen ist nicht immer eine Form von Lügen wie bei Renz’ Flugzeugstory, es kann auch Diskretion sein. Diese leichte Krümmung ihres kleinen Fingers: eine Intimität, Bühl hatte darüber hinweggesehen. Was eine lange Ehe zur Prüfung macht, ist das immer Offenere des eigentlich Geheimen, alles liegt bloß, keiner kann mehr wegsehen. Dann ruf in deinem Traumhotel an, cancel die Woche dort, sagte sie, und Renz stand zum Telefonieren auf. Aber eine Nacht ist schon abgebucht, macht das nichts? Er ging ein Stück auf den Platz, den Kopf leicht geneigt – ihr Mann, der etwas regeln wollte für sie beide. Nein, das macht nichts, rief sie und hörte ihn dann englisch reden, etwas, das sie immer gemocht hatte an ihm; sein Ton war amerikanisch, als Student hatte er in Kalifornien Eis verkauft, sie hätte sich sicher in ihn verliebt. Damals hatte sie sich ständig verliebt. Sie war nicht wie diese Facebook-Leute, die immer den Kopf über Wasser behalten wollen, nicht rauchen, nicht trinken und sich nicht verknallen. Die Praktikanten im Sender, die sie höflich grüßen und weitergehen, als wäre sie keine Frau. Sie halten sogar Türen auf oder geben ihr bei Gelegenheit die Hand und verschwinden dann auf die Toilette. Aber nur, um sich die Hände zu waschen nach der fremden Hand, nicht etwa um heimlich zu heulen, weil sie unglücklich sind. Oder es sich selbst zu machen, weil alles zu
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