Liebe in groben Zügen
kleine Schauspiele anschob – alte Zeitungen als verletzte, sich überschlagende Vögel, Regenlachen als stürmische See, die Hunde mit Wellen im Fell. Mir fehlt gar nichts, sagte Bühl, und jetzt sah sie ihn doch an, aus schmalen Augen gegen den Wind, immer noch die Hand in seinem Nacken, und er knüllte den Mantel und schob ihn sich zwischen die Beine. Erzähl von deiner Tochter, wie ist sie? Er tippte ihr an den Bauch zwischen Hemd und Hose, einmal, zweimal, und sie griff sich den Finger. Katrin, was soll ich da erzählen? Das Kind hat sich mit sechzehn zum ersten Mal verliebt. In einen Hazim, der auch genauso aussah. Ich konnte sie gut verstehen, mein Mann gar nicht. Er hasste den Jungen, und sie wollte in den Sommerferien zu ihm nach Marokko, wir waren beide dagegen, und sie fuhr mit an den See und hat dort sechs Wochen kein Wort gesagt, Renz ist fast verrückt geworden. Am Ende hat er sie angefleht, mit ihm zu reden, und sie hat sich auf die Lippe gebissen, bis Blut kam. Erst auf der Rückfahrt sagte sie etwas, kurz hinter Kufstein, als wir wieder in Deutschland waren. Noch zwei Jahre, und ich bin weg, sagte sie.
Und nun willst du sie holen? Bühl legte den Kopf zurück, er ließ Vila sein Haar spüren. Ich weiß nur, was ich in Havanna will, meine Tochter finden, weißt du, was du willst?, die Gegenfrage, und von ihm nicht mehr als ein Öffnen der Hand, ein Schwerzusagen oder Sag du, was ich will, verbiete mir nur eine Kleinigkeit, dich anzusehen, und schon weiß ich alles. Ein stummes Reden, Luftworte, salzig wie die Gischt; für Vila schien die Säule in ihrem Rücken wegzukippen, also hielt sie sich an Bühl, die Hand in seinem Nacken jetzt verklemmt, weil er den Kopf noch mehr zurücklegte. Er sah sie von oben an, aber kein Blick von oben, ein Verharren, wie Tiere bei Gefahr, bereit, in die eine oder andere Richtung zu springen, zu fliehen oder anzugreifen, während sie sich schon stellte, mit den Augen, dem Mund, die verwundbarsten Stellen zeigte, nun auch die andere Hand in seinem Nacken. Und plötzlich schlug alles Verharren ins Gegenteil um, in den einzigen, ganz und gar menschlichen Angriff auf ein Gesicht.
Der erste Kuss, vollkommene Fülle und Leere zugleich, ein Sturz in den Himmel – zwei machen einen Anfang, umarmen einander und schwingen sich über die Kante des Eigenen, sie küssen und riskieren den freien Fall, das höchste der Gefühle: Du bist der, der mich küssen soll, du bist der, den ich küssen will, welch ein Glücksfall. Und die erste Unterbrechung von Vilas Seite, ein Atemholen, war auch ein erneutes Ansetzen: warum den Anfang nicht gleich noch einmal machen? Also ein langer Kuss, Erteilung von Erlaubnissen in kleinen Schritten, nimm meine Lippen, koste von meiner Zunge, halte mich, wie du willst. Vila holte Atem, ohne den Mund von Bühls Mund zu lösen, und auf einmal seine Hand an ihrem Gürtel – die Hand, die besser als die eigene war, darin bestand der Glücksfall –, sie öffnete den Gürtel, die Jeans, und ihr blieb nur, den Bauch etwas einzuziehen, das war ihr ganzer Beitrag, scheinbar gering, in Wahrheit riesig: Wie viele Jahre war es her, dass sie zuletzt, im Freien stehend, eine entschlossene Hand zwischen Hose und Bauch gespürt hatte? Die letzte war die von Renz, eine Umarmung mitten in Berlin nach einer Fernsehgala, sie beide angewidert von falschen Küsschen, also taten sie es in einer Fotokabine; die paar Hände, die danach noch kamen, ihr zwischen die Beine griffen, waren höchstens neugierig, nicht entschlossen. Weiter die Säule im Rücken, ein Bein jetzt etwas angewinkelt, strich sie über die Hand, die nicht ihre war, und erteilte noch eine Erlaubnis, noch einen Segen. Und sie küsste auch wieder und ließ sich küssen und sprach zwischendurch den noch neuen Namen in den neuen Mund, Kristian Bühl: auch eine Art, sich bekannt zu machen, ich bin die, die deinen Namen sagt, ihn im Mund führt. Gleich zweimal machte sie das, und er legte das Gesicht an ihres, als sei es weder älter noch jünger als seins, nur das Gesicht, dem er nah sein wollte, und da begann ihre Hand zu tun, was auch für ihn gut war, vorsichtig langsam unter dem geknüllten Mantel, dabei ihrer Sache ganz sicher. Als ein Bündel Mensch standen sie an der Säule, das Frau-und-Mann-Bündel, kaum geschützt vor den Autos, kaum geschützt vor dem Aufspritzen der Meerwasserlachen, und nach einer Weile hoben alle Hunde die Ohren, stets aufmerksam bei ungewohnten Lauten.
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V
DER noch neue, noch
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