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Liebe in groben Zügen

Liebe in groben Zügen

Titel: Liebe in groben Zügen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Kirchhoff
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Rückkehr mit dem Fernglas gesehen: das Lager von Franz in den kalten Herbstnächten – wer kann schon sagen, dass es nicht so war – und in der kommenden Nacht, kleines Experiment, auch sein Schlafplatz. Der Felsspalt oder die schmale Aushöhlung lag über dem Wasserspiegel, auf dem steinigen Boden ein Schlauchboot ohne Luft und Ruder. Er nahm das Handtuch aus der wasserdichten Tasche und rieb sich trocken, er zog sich wieder an und breitete die Decke aus. Auf dem Grund der Tasche, unter dem Feigenpäckchen, Schreibsachen für eine Nacht, Block und Stift, dazu Kerzen und ein Feuerzeug; noch reichte das Licht durch die Sträucherpforte, ein später Novembernachmittag, der Himmel wie angelaufenes Silber. Er öffnete eine der Dosen und trank von dem Wachmacher, den Block auf den Knien – der Poverello hatte hier wochenlang nur eine Kutte, das Wasser vom See und die Früchte, die von den Bäumen fielen. Aber seinen Glauben und einen Willen. Und in den Nächten noch etwas darüber hinaus. Er hat auch alles, was ihm gegen seinen Willen durch den Kopf geht, die junge Wäscherin, ihr langes Haar, der Bruder, den er über alles liebt, Stefano, von ihm in den eisigen Tiber geschickt, um ein heißes Gemüt zu kühlen, danach im Dunkeln getröstet.
    Oder noch süßere Dinge, die lange zurückliegen, seine Ritte durch die Unterstadt in Sommernächten, das Singen und Tanzen für die Mädchen, die nichts hatten als ihren Liebreiz; der Wein, das Stroh, seine Nacktheit: die er eines Tages zur Waffe gemacht hat. Nichts ist tiefer verankert als dieser Tag, nichts hilft ihm mehr durch die kalte, von Träumen zerfurchte Nacht in dem Felsspalt am See als die Erinnerung an seine größte Stunde in Assisi. Wochenlang hat er sich dort nicht mehr blicken lassen, hat in der Macchia gelebt, ein Tier, dann der Entschluß, dem Vater, dem Bischof, ganz Assisi die Stirn zu bieten. Bärtig und in Lumpen steigt er in die Oberstadt, wer ihn erkennt, verhöhnt ihn als Narren; schon laufen die ersten zusammen und johlen Pazzo Francesco!, die Kinder werfen mit Kot nach ihm, schon naht der alte Bernardone, brüllend vor Zorn. Er zerrt den Lumpensohn in sein Haus und sperrt ihn in den Keller, die Mutter kann ihn nach Tagen befreien, und er weicht noch einmal zurück vor die Stadtmauer, bis der Vater erwirkt, daß sein schändliches Fleisch und Blut durch den städtischen Ausrufer zum Palazzo dei Consoli in der Via di Santa Maria delle Rose zitiert wird, dort soll Gericht gehalten werden über einen, der des Vaters Geld an die Armen verschwendet hat. Der aber weigert sich: nur der Höchste könne ihm befehlen. Und da schaltet sich der Bischof ein, schickt einen Boten, und Franz sieht die Chance für einen Skandal. Er folgt dem Ruf, er tritt vor die Gerichtsversammlung, der Bischof rät ihm, das Geld dem Vater zu erstatten, Gott selbst werde ihn wieder mit dem Nötigsten versorgen, für Franz der Augenblick der Wahrheit. Er geht kurz in einen Hauseingang, um dann nackt vor die Versammlung zu treten. Ein sonniger, aber kalter Tag, Frühjahr zwölfhundertsechs, Franz ist vierundzwanzig, jede seiner Rippen steht hervor nach den Zeiten im Wald. Zitternd in der Märzluft, Hände vor der Brust gefaltet, das Geschlecht unbedeckt, so spricht er die berühmten Lossagungsworte zum Vater, seine Enterbung vor Gott und der Welt. Und von da an ist er nackt trotz Kutte, die Flicken können ihn nicht mehr kleiden. Nackt wandert er und predigt, nackt liegt er in Ställen und Höhlen, in schlaflosen Nächten kaum von der Haut geschützt, eine einzige Schwachstelle, an der im Dunkeln die Mäuse knabbern. Franz umarmt sich selbst im Stroh, er umarmt seine Schwäche, sein Verlangen, beide Mythen, daß sich Liebe in Schönheit verwandeln läßt oder in Unsterblichkeit, platzen für ihn Nacht für Nacht; kaum wird es hell, errichtet er sie wieder, sein Tagwerk. Franz singt, er predigt, er zieht umher oder verharrt in Einsamkeit, niemand vermag ihm zu erklären, daß man sich nicht nackter als nackt machen kann, selbst enthäuten, ohne um die Haut zu trauern. Er trauert nicht, sein Leiden ist paradiesisch, bis er die Landzunge im Benacus-See für das Alleinsein wählt und in den Nächten dort an Klara in Gestalt der Wäscherin denkt, immer wieder, und immer wieder dagegenhält: mit dem Bild seiner Nacktheit vor versammelter Stadt. Beginnt so eine Liebe, versteckt vor sich selbst? Und wie endet dieser Zustand, der sich in nichts anderes verwandeln läßt, auch in keine Vernunft,

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