Liebe ist der größte Schatz
Mondlicht getaucht, als Emerald auf ihrem Rückweg durch den Barockgarten innehielt und zum Dach emporsah. Sie wollte gerade weitergehen, als in einem erleuchteten Fenster des ersten Stocks plötzlich die wohlvertraute Silhouette des Duke of Carisbrook sichtbar wurde. Rasch verbarg sie sich hinter ein paar Rhododendronsträuchern und blickte neugierig zu dem Erkerfenster hoch, dessen Vorhänge zur Seite gezogen waren.
Asher war an die Scheibe getreten und sah in den nächtlichen Garten hinunter. Sein Mienenspiel verriet tiefen Gram.
Er trauerte um Melanie, seine verstorbene Gattin, haderte mit seiner Verstümmelung und litt mit dem fast er blindeten Bruder. Und zu alldem kam seine Verantwortung für Falder, auf dessen Schultern tausend Jahre Geschichte ruhten. Emerald seufzte. Was konnte sie ihm Tröstliches sagen? Küss mich? Liebe mich? Lass mich bei dir bleiben auf Falder, für immer? Auf diesem Anwesen, wo seit Jahrhunderten seine Ahnen gelebt hatten und die Erinnerungen freundli cher Natur waren?
Freundlicher als ihre eigenen Erinnerungen.
Eine Brigantine auf dem tobenden Ozean, vor sich hergetrieben von einem Sturm, der gleich den nächsten verhieß, war dem Dreimaster auf den Fersen. Der englische Schoner barg eine verheißungsvolle Ladung im Rumpf, und oben an Deck stand Asher Wellingham mit dem Säbel in der Hand und zwei Dutzend Männern hinter sich zur Verteidigung bereit. Sein Schiff war eine leichte Beute.
Langsam und schwerfällig.
Emerald hatte sofort gemerkt, dass er ein ausgezeichneter Fechter war. Als er sich jedoch zu ihrem Vater durchgekämpft hatte, war sie dennoch überrascht gewesen, denn Beaus Leute kannten keine Skrupel.
Eine Kanonenkugel, die über ihn hinwegdonnerte, hatte ihn ihr gleichsam vor die Füße geworfen, und als sie mit ihrem Säbel ausholte, stand er bereits wieder und parierte ihren Schlag.
„Du hast dir den falschen Mann ausgesucht, Junge. Lass deine Waffe fallen, und ich sorge dafür, dass du ungehindert nach England gelangst. Du bist zu jung, um zu sterben.“
Emerald dachte nicht daran, sich zu ergeben, und griff ihn erneut an. Obwohl sie ihn am Arm traf, war sie bald wieder in Bedrängnis.
„Gib auf, dann verschone ich dich. Es liegt mir nicht, Unschuldige zu töten.“
In dieser Sekunde hielten beide inne, denn sie blickten einander das erste Mal aufmerksam in die Augen. „Gütiger Gott, du bist ein Mädchen!“, rief er aus und fuhr ihr, überwältigt von dieser außerordentlichen Erkenntnis, mit dem Daumen über die Lippen. Seine Geste war so überraschend, dass sie unwillkürlich die Wange in seine Hand schmiegte, inmitten des Gefechts, das ihr plötzlich so unwirklich erschien.
„Himmel!“, hörte Emerald sich flüstern und verbannte die Erinnerung. Sie schüttelte den Kopf und überprüfte, ob das Messer an ihrem Gürtel ordnungsgemäß in der Scheide steckte.
Richtig und falsch. Gut und Böse. An Bord der „Mariposa“ war sie die Tochter ihres Vaters gewesen, doch hier in Falder wusste sie nicht mehr, wer sie war und wohin sie gehörte.
„Asher“, wisperte sie und legte die Finger auf die Lippen. Mit ihm verband sie ein Heim, eine Familie, Verantwortung und Zuverlässigkeit. Im Gegensatz zu Beau nahm der Duke of Carisbrook diese Dinge ernst, und dafür bewunderte sie ihn.
Sie duckte sich und schlich, insgeheim ihren Vater verwünschend, zur Rückseite des Hauses, um über die Dienstbotentreppe ungesehen in die Geborgenheit ihres Zimmers zu gelangen.
Unruhig schritt Asher auf und ab. Das Bild Emma Seatons, wie sie nackt auf ihn zuwatete, während Wassertropfen an ihrem Körper hinabrannen, wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen.
Sie war die schönste Frau, die er je gesehen hatte. Zum ersten Mal in seinem Leben fiel es ihm schwer, sich Melanies Gesicht ins Gedächtnis zu rufen. Stattdessen kam ihm immer wieder Emma vor Augen mit ihrem Schmetterling auf der Brust und der gezackten Narbe auf ihrem Oberschenkel. Er war selbst oft genug verwundet worden, um das Mal eines Säbels zu erkennen.
Wo und wann mochte sie diese Verletzung davongetragen haben? Und weshalb hatte sie ihre Handschuhe beim Baden nicht abgelegt? Was verbarg sie darunter? Asher lächelte und hob das Wasserglas an die Lippen. Heute hatte er sogar einen anderen Nachttrunk gewählt als gewöhnlich. Emma Seaton veränderte ihn. Er fühlte sich so lebendig wie schon lange nicht mehr, und selbst Falder schien durchdrungen von den Schwingungen ihrer Präsenz. Was wäre geschehen, wenn
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