Liebe ist der größte Schatz
sie ihn hereinlassen sollte. Hier in England drohte ein Skandal, wenn eine Dame einen Gentleman in ihrem Schlafzimmer empfing. Asher bemerkte ihre Unsicherheit und blieb auf der Türschwelle stehen, selbst nachdem sie ihm mit einer Geste bedeutet hatte einzutreten.
„Nein, ich sollte nicht hereinkommen …“ Er verstummte und blickte sie beunruhigt an. „Wo haben Sie diese Tätowierung her, den Schmetterling?“
„Ich habe mich in Jamaika tätowieren lassen.“
„Ist das denn üblich für die Tochter eines frommen Mannes?“
„Ich denke, wir beide kennen die Antwort auf diese Frage“, erwiderte Emerald ruhig.
„Ich würde es gern aus Ihrem Mund hören.“
„Mein Vater war nicht so, wie Sie ihn sich vorstellen.“
„Sondern?“ Die goldenen Flecken in Ashers Pupillen schimmerten im Kerzenschein.
„Er war ein Mann, der vom Leben enttäuscht wurde.“
„Taris sagt, Sie seien eine gute Schachspielerin. Es kommt nicht oft vor, dass er verliert. Wo haben Sie Schach spielen gelernt?“
Auf der „Mariposa“, an keinem anderen Ort, dachte sie und schlug die Augen nieder. „Ein Onkel hat es mir beigebracht.“ Zu ihrer Erleichterung gab er sich auch diesmal mit einer knappen Antwort zufrieden.
„Habe ich vorhin Musik in Ihrem Zimmer gehört?“
„Das haben Sie.“ Sie griff nach der Mundharmonika, die sie auf dem Konsoltisch neben der Tür abgelegt hatte, und beobachtete sein Mienenspiel beim Anblick des ungewöhnlichen Instruments. Er schien verwirrt, amüsiert, und gleichzeitig sehr interessiert.
Prüfend sah er sie an. „Meine Familie mag Sie, Lady Emma. Insbesondere Taris und Lucinda wissen nur Lobeshymnen über Sie zu singen. Das erstaunt mich besonders bei meinem Bruder, dem gerade in letzter Zeit nicht danach war, poetisch zu werden.“
„Wie hat er sein Augenlicht verloren?“, fragte Emerald mit sanfter Stimme. Ashers Miene verhärtete sich.
„Es war ein Unfall, der niemals hätte geschehen dürfen. Wenn ich nicht …“ Er brach ab und biss die Zähne zusammen.
„Ich habe nicht den Eindruck gewonnen, dass er Sie für das Unglück verantwortlich macht, Euer Gnaden.“
Er lächelte und wich einen Schritt zurück. „Nein, das tut er nicht.“
„Aber Sie geben sich die Schuld, nicht wahr?“
„Wir sind morgen Abend in Longacres bei den Gravesons eingeladen“, wechselte er abrupt das Thema. „Ich würde es nach dem Vorkommnis gestern Morgen verstehen, wenn Sie lieber absagen würden.“
„Nein, ich habe nichts dergleichen im Sinn.“
„Wenn Sie gegen fünf Uhr fertig sein könnten, wären wir vor Mitternacht wieder zurück.“
Plötzlich waren Stimmen im Treppenhaus zu hören, und ohne ein weiteres Wort oder einen Abschiedsgruß wandte er sich um und entschwand ihrem Blickfeld.
Emerald hatte nichts zum Anziehen, dabei musste sie in zwei Stunden ausgehfertig sein. Sie nahm das letzte Kleid aus dem Schrank und betrachtete es missbilligend. Früher hatte sich niemand für ihr Äußeres interessiert, aber hier in England machte sie sich unmöglich, wenn sie mit einem zerschlissenen Kleid wie diesem auf einer Dinnerparty erschien, obendrein, wenn ein Duke sie begleitete. Was wür de ich nicht geben für eine vorzeigbare Garderobe, dachte sie wehmütig. Kleidungsstücke, die mir passen und deren Farben nicht ausgewaschen sind.
Und was sollte sie mit ihren Handschuhen machen? Sie musste befürchten, dass der Stoff sich vor aller Augen auflöste, wenn sie nicht achtgab.
Es klopfte, und ohne ein „Herein“ abzuwarten, rauschte Lucinda in den Raum. Ihr Blick fiel sogleich auf das schäbige Kleid. „Wollen Sie dieses Kleid heute Abend tragen? Vielleicht sollte ich Sie warnen. Lady Annabelle legt viel Wert auf eine angemessene Garderobe.“
„Dann wird sie ziemlich enttäuscht sein von mir, fürchte ich.“
Lucinda lachte. „Interessieren Sie sich nicht für Mode?“, fragte sie vorsichtig.
„Sie klingen wie Ihr Bruder.“
„Asher hat sich mit Ihnen über Ihre Kleider unterhalten?“
„Das hat er. Und ich habe ihm gesagt, dass mir Bücher wichtiger sind.“
„Ist das wahr?“
Emeralds Zögern war Lucinda Antwort genug. „Dachte ich mir doch, dass das nicht stimmt.“ Sie trat zum Schrank und schloss mit Nachdruck die Türen. „Keines dieser Kleider kommt infrage, Emma. Darf ich Sie so nennen?“
„Meine Freunde nennen mich Emmie.“
„Dann werde ich das auch tun. Ich denke, ich habe genau die richtige Robe für Sie. Meine Cousine hat sie hiergelassen, als sie
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