Liebe, lebenslänglich
auch noch die Beinknochen verlängern lassen soll. Der Längengewinn von vielleicht zehn Zentimetern hätte sie etwa ein Jahr Behandlungszeit gekostet, sechs Monate davon im Rollstuhl. Sie hat abgelehnt. Das Glück, zehn Zentimeter näher bei der Mehrheit zu sein, schien ihr nicht so groß wie das Unglück, sich zwölf Monate lang nicht wohlzufühlen.
Sofia hat sich mit dem Leben in ihrem Körper arrangiert. Sie hat sich nie bemüht, herauszufinden, ob sie die zu Kleinwuchs führende Genveränderung von ihrer Mutter oder von ihrem Vater geerbt hat, oder ob sie wie in achtzig Prozent aller Fälle auf eine Neumutation zurückgeht. Und Sofias Umfeld hat sie in der fraglosen Akzeptanz ihrer Situation unterstützt. Sie war und ist von Freundinnen umgeben und verspürte deshalb nie ein Bedürfnis, andere kleinwüchsige Menschen kennenzulernen: »Ich brauche das nicht.«
Regula Mattmüller war einmal bei einem Treffen, das die Elternvereinigung kleinwüchsiger Kinder organisiert hatte. Sie ging kein zweites Mal hin. Es kam ihr vor, als seien all diese Eltern depressiv. »Die schienen vor allem sich selbst zu bemitleiden und es als gewaltiges Problem zu sehen, dass ihr Kind nicht dem Bild entsprach, das sie sich von ihm gemacht hatten.« Sie habe dieses Problem nicht. Austausch sei durchaus nett, allerdings nur mit interessanten Leuten. Die Gemeinsamkeit, ein kleinwüchsiges Kind zu haben, erzeuge nicht zwingend Nähe.
Aus der Gelassenheit, die Regula Mattmüller in Bezug auf ihre Tochter hat, sollte man nicht schließen, dass sie sich keine Gedanken macht. Bis jetzt ging es erstaunlich gut, bis jetzt hat Sofia ein Leben geführt wie ihre Freunde. Aber Sebastian, Sofias Bruder, hat seit einiger Zeit eine Freundin. Und auch ihre Freundinnen werden zunehmend Freunde haben. »Ihre Freundschaften waren Sofia bis jetzt unendlich wichtig und eine wesentliche Stütze«, sagt Regula Mattmüller. Sie hat beobachtet, wie niedergeschlagen Sofia war, wenn sie sich mit einer Freundin zerstritten hatte.
Als Mutter kann sie sich vorstellen, dass das Erwachen der Sexualität und die Sehnsucht nach einem Freund Sofias Leben noch stärker aus dem Gleichgewicht bringt als das anderer Jugendlicher. »Vielleicht entwickelt sie in Zukunft ein zunehmendes Interesse für andere Kleinwüchsige«, sagt sie. Vielleicht ist das das Ende eines normalen Lebens in einem besonderen Körper. Vielleicht kommt der Moment, wo ihr Umfeld Sofia ihr Anderssein brutal zu spüren gibt. »Aber vielleicht«, sagt Regula Mattmüller, »kommt dieser Moment auch nie.« Sofia sei eine frohe, lustige Person, sie sei sehr sinnlich und habe Sex-Appeal, sie ruhe in sich, das ziehe die Menschen an. Sie werde ihren Weg gehen.
Regula Mattmüller hält sich weiterhin an die Lektion, die Sofia ihr als Baby erteilt hat, nämlich sich nicht auf Vorrat Sorgen zu machen. Bisher fuhr sie gut damit. Etwa als sie dachte, dass es Sofia schwerfallen könnte, eine Lehrstelle zu finden: Sie fand sehr schnell eine.
Auf die Frage, ob sie sich wünsche, ihre Tochter wäre normal groß, sagt Regula Mattmüller: »Nein. Ich möchte Sofia nicht anders, als sie ist. Wäre sie anders, wäre sie nicht sie.«
Als ich Sofia frage, ob sie sich nach einem Freund sehne, antwortet sie knapp und ausweichend. Recht hat sie, denke ich. Denn was wäre das für ein Teenager, der kein Geheimnis macht um sein Herz. Auf die Frage, ob sie sich wünsche, normal groß zu sein, antwortet sie sofort: »Ich würde es nicht wollen. Weil ganz viel von meiner Persönlichkeit an meiner Größe hängt. Meine Freunde und meine Familie kennen mich so. Nicht anders.«
IN DER WUT NENNE ICH
IHN STAUBLAPPEN
Für William Krause (37) ist die Beziehung zu seiner Mutter ganz okay. Für Petra Krause-Wloch (59) nicht. Sie hat eine gescheiterte Ehe, den Tod ihres zweiten Mannes und einen sehr schweren Unfall weggesteckt. Doch wie sie die trockene Distanziertheit ihres Sohnes aushalten soll, weiß sie nicht. Sie sucht nach Gründen. Er versteht nicht, wofür.
Der 27. November 1991, der Tag ihres Unfalls, hat sich Petra Krause-Wloch so prägnant ins Gesicht geschrieben, dass sich die Leute bis heute nach ihr umdrehen. Manchmal geht sie durch die Straßen wie durch ein Spalier von Blicken. Ihre linke Gesichtshälfte ist voller Brandnarben. Der Mund ist schief, von der Nase fehlt ein Teil. Wenn der Wind durch ihre langen, blonden, lockigen Haare wirbelt, fällt das fehlende linke Ohr auf.
Doch wenn sie einen mit forscher
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