Liebe und andere Zufalle
Lady . »Ich wollte gerade sagen, dass, wenn Sie die Situation nur ein wenig analysieren, Ihnen auch klar werden müsste, dass es
praktisch unmöglich für Cal war, in die Firma einzutreten.«
Jefferson legte seine Gabel nieder.
Min hob ihr Weinglas. »Zunächst einmal ist er der jüngere Sohn. Meistens treten die älteren in die Fußstapfen des Vaters, da sie ihm gefallen wollen.« Sie lächelte Reynolds über den Tisch hinweg an. »Deswegen sind sie auch oft erfolgreich.« Sie nahm einen Schluck von dem ausgezeichneten Wein, während sie mit unterschiedlichen Kältegraden an Missbilligung angestarrt wurde. »Außerdem bekommen sie meistens den Löwenanteil der elterlichen Aufmerksamkeit und Anerkennung, so dass sich ihr Erfolg wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung einstellt. Die jüngeren Kinder dagegen lernen, dass sie sich mehr anstrengen müssen, um beachtet zu werden, und verweigern deswegen die Gefolgschaft.«
»Ich habe den Verdacht, Ihre Psychologie ist nicht gerade professionell«, entgegnete Jefferson mit einem Lächeln, in dem nicht die geringste Wärme lag.
»Nein, es ist mehr ein persönliches Talent«, versetzte Min. »Trotzdem ist es durch Überlieferung bewiesen. Bis zurück zu den Mythen und Legenden. Sogar in den Märchen zieht immer der jüngere Sohn in die Welt hinaus, um sein Glück zu machen.«
»Märchen«, kicherte Reynolds albern vor sich hin, während Bink mit ihrer Nachahmung einer erstarrten Eule fortfuhr.
Min wandte sich wieder an Jefferson. »Und denken Sie nur einmal über Cals Persönlichkeit nach. Seine Freunde sagen, dass er kaum je eine Wette verliert. Vorschnell geurteilt, könnte man ihn für eine Spielernatur halten, aber das ist er nicht. Wenn er ein Spieler wäre, würde er die Hälfte der Wetten verlieren. Er aber kalkuliert die Wahrscheinlichkeiten und geht das Risiko nur ein, wenn er weiß, dass es ihm etwas einbringt.« Wieder warf sie über den Tisch Reynolds einen Blick zu. »Als jüngerer Sohn würde er in der Familienfirma nie an die Spitze kommen. Zumindest ist das so unwahrscheinlich, dass er es wohl nie in Betracht gezogen hat, in die Firma einzutreten.«
»Er hätte Partner werden können«, wandte Jefferson ein, und jederAnscheineiner leichten Tischunterhaltung schwand.
»Dritter Partner, vielleicht, nach Ihnen und Reynolds«, erwiderte Min. »Außerdem ist da noch Ihr Partner und dessen Kinder. Nein, innerhalb der Familie wird er immer nur der Benjamin bleiben, deswegen musste er einfach hinaus. Und dann kommt ja noch seine Legasthenie dazu.«
Es lag eine so vollkommene Stille über dem Tisch, dass Min sich wunderte, dass sich kein Raureif bildete. Sie nahm ihre Gabel und ihr Messer wieder auf und schnitt einen Bissen von ihrem Filet ab. Am liebsten hätte sie um eine Styroporschachtel für ihren Essensrest gebeten und sich verabschiedet.
»Wir ziehen es vor, nicht über Cals Behinderung zu sprechen«, erklärte Lynne abweisend.
Min nahm sich Zeit mit ihrem Bissen, aber nachdem sie hinuntergeschluckt hatte, erwiderte sie: »Warum? Es ist Teil seiner selbst, und es hat ihn mit geformt, so wie er heute ist. Kein Grund, sich dessen zu schämen. Mehr als zehn Prozent der Bevölkerung leiden an Legasthenie, es ist also keine Seltenheit. Und es ist auch ein Grund, warum er seine eigene Firma aufgemacht hat. Zweiundneunzig Prozent aller Legastheniker gründen ein eigenes Geschäft, weil die üblichen Arbeitsbedingungen für ihre speziellen Bedürfnisse nicht günstig sind. Und üblicherweise sind sie sehr erfolgreich, weil es meistens intelligente, einfühlsame Menschen sind.« Sie hob ihr Glas. »Sie haben da einen klugen, fleißigen, erfolgreichen, gesunden Sohn, der noch dazu charmant und beliebt ist und extrem gut aussieht. Ich wundere mich wirklich, dass Sie sein Bild nicht in Ihrem Bekanntenkreis herumreichen und mit ihm prahlen.« Sie lächelte zu Cal auf und bemerkte, dass er sie mit reglosem Gesicht anblickte. »Ich würde mit ihm prahlen, wenn er meiner wäre und ich ein Bild von ihm hätte.«
»Wir sind natürlich sehr stolz auf Calvin«, erklärte Lynne steif.
»Gut, gut«, versetzte Min und wandte sich wieder ihrem Teller zu. »Er hat außerdem Recht, was das Filet betrifft. Es ist wirklich hervorragend.«
»Vielen Dank«, erwiderte Lynne, dann wandte sie sich an Reynolds und erkundigte sich nach der Arbeit. Eine Viertelstunde später wurde das Dessert serviert. Reynolds, Lynne und Jefferson unterhielten sich über die Firma; Cal
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