Lieber einmal mehr als mehrmals weniger
verschwunden ist, und ziehen unser Eisenstab-Monstertor hinter uns zu.
Der Hof liegt da wie immer. Der Hürlimann steht in der Scheune wie immer. Die Esel lungern vor dem Stall wie immer. Die Schafe mümmeln auf der Weide wie immer. Warum, frage ich mich, erscheint mir diese sich tagtäglich bietende und somit vertraute Szene plötzlich so viel friedlicher und satter als vor Jakobs Besuch? Hand in Hand schreiten Sonja und ich über den Hof zum Haus. Einem Impuls folgend, löse ich mich von ihr und biege ab zur Scheune. «Ich schau nur noch schnell nach dem Hürli … also, ob der Hürli … ob der Benzinhahn …», murmele ich. «Mach nur», lächelt Sonja.
Ich schwinge mich auf den Fahrersitz. Umfasse das Lenkrad, drücke das Kupplungspedal und greife nach der Zündung. Aber ich starte nicht. Wozu? Es reicht zu wissen: Ich könnte. Jederzeit. Es ist ein neues, vertrauteres Gefühl auf dieser Maschine, jetzt, seitdem mir Jakob all ihre verborgenen Geheimnisse gezeigt hat. Ich sitze minutenlang einfach nur da, auf meinem Fahrersitz und mache … nichts. Überhaupt nichts.
«Du, hast du was gemerkt?», meldet sich der kleine Schweizer in mir überraschend. «Ich war die ganzen letzten Tage mucksmäuschenstill! Ist dir das aufgefallen, hä?»
«Nein», antworte ich. «Ist es nicht.»
«Aber das ist doch aufgefallen … Das muss dir doch gefehlt haben, dass ich etwas sage!»
«Ehrlich gesagt: Nein, es hat mir nicht gefehlt.»
«So. Also nicht, hä», macht der kleine Schweizer in beleidigtem Ton.
«Nein.»
«Ja, dann war das also ein Fehler …»
«Was?»
«Dass ich nie nichts gesagt habe!»
Ich zucke gleichgültig mit den Schultern. Aber der kleine Schweizer gibt keine Ruhe: «Du könntest mich ruhig mal fragen, aus welchem Grund, oder? Aus welchem Grund ich mich die ganze Zeit nicht gemeldet habe!»
«Und?», frage ich kurz, ich will’s hinter mir haben.
«Ja, weil ich mir eben dachte», erklärt der kleine Schweizer eifrig, «solange der Jakob hier ist, gibt es ja einen Schweizer, der auf dich aufpasst. Da konnte ich doch mal relaxen und ein wenig weniger Präsenz zeigen, oder?»
«Was hat deine Präsenz mit Jakobs Besuch zu tun?»
«Ist doch klar, oder! Er ist doch Schweizer wie ich, oder, und es braucht ja nicht gleich zwei, die …»
«Jakob ist NICHT Schweizer wie du», unterbreche ich ihn.
«Doch», sagt er empört. «Er ist auch Schweizer, oder?»
«Nein!»
«Ja was … Nicht?»
«Schon, aber nicht wie du.»
«Wie denn?»
«Wie ein Mensch. Lange bevor er Schweizer ist, ist Jakob Mensch, kleiner Schweizer. Und zwar ein großer. Er könnte, wenn er wollte, auch ein großer Brandenburger sein, der Jakob.»
Darauf will dem kleinen Schweizer keine Antwort mehr einfallen.
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FKK-Picknick
Die schmale Allee wird nach zwei Kilometern von Stacheldraht und Betonklötzen brutal durchtrennt. Dahinter setzt sie sich auf dem Gelände des ehemaligen Russen-Flugplatzes noch eine kleine Strecke fort, wild verwuchert jetzt, kaum noch als Allee erkennbar, bis sie unter einem riesigen atombombensicheren Kampfjethangar endgültig verschwindet. Als hätten die Götter des Kalten Krieges mit dem monströsen Betonklotz einer grünen Paradiesschlange den Kopf zertrümmert. Diese märchenhafte Allee ist ein real existierendes Schlaraffenland. Ringlotten, Pflaumen, Äpfel, Birnen, Zwetschgen und Walnüsse hängen je nach Jahreszeit üppig von den seit der Wende ungeschnittenen und ungespritzten Bäumen, die das schmale Band aus brüchigem Asphalt beidseitig säumen. Himbeer- und Brombeertriebe wuchern zwischen den Stämmen, Haselnussruten verdichten die Naturhecke, in welcher Bodenbrüter, Eidechsen und Hasen ihre Nachkommenschaft aufziehen, Igel ihr Winterquartier einrichten und ab und zu ein Wildschwein sich an der beträchtlichen Auswahl von Pilzen gütlich tut. Hier führt die Natur den hohnlachenden Beweis, dass sie aus sich selbst heraus großzügigste Mengen von Essbarem schafft, wenn sie nur sich selbst überlassen wird und tunlichst verschont bleibt von der ertragssteigernden Intensiv-«Pflege» der Menschen.
Eine im frühen Licht des Hochsommermorgens flimmernde Blechwand pflügt vom Dorfende her durch die Allee. Die Wand ist fast so hoch wie die Bäume und so breit, dass sie auf beiden Seiten am Gestrüpp entlangstreift. Langsam, im Schritttempo, drückt sie die über dem Sträßchen sich fast berührenden Zweige der Baumkronen auseinander, reißt einzelne Blätter ab und
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