Lieber Onkel Ömer
bedauerten die ganze
Zeit nur sich selbst und jammerten mir die Ohren voll, dass sie sich bei diesem Kartenspiel ohne zwei anständige Joker keine
großen Sprünge leisten könnten. Dabei wurden sie weder von heißem Fett noch von hungrigen Haien und Piranhas bedroht – nur
von abgestandenem türkischem Tee!
|127| Euphorisch wie wir waren, haben wir an dem Tag gleich nach dem Abendessen angefangen, die Niedersächsischen Kleingarten-Gesetze
auswendig zu lernen.
Mehmet hatte die ersten Paragrafen unter den Familienmitgliedern verteilt, und ich bekam den Paragrafen
2.2.
Sobald wir sie ohne Textvorlage fehlerfrei runterrattern konnten, würden wir wieder neue Paragrafen zugeteilt bekommen.
Mein Paragraf 2.2. mit der Überschrift »Anpflanzungen« aus den Niedersächsischen Kleingarten-Gesetzen vom 8.4.2007 lautete:
»Bei der Anpflanzung von Sträuchern sind nur solche Arten zu wählen, die durch Rückschnitt und normale Pflege auf einer Höhe
von 3,50 m gehalten werden können.
Bei Bäumen, Sträuchern und hochwachsenden Gräsern sind die Mindestabstände von den Nachbargrundstücken bzw. Nachbargärten,
Wegen und Gemeinschaftsflächen nach Paragraf 150 des Niedersächsischen Nachbarrechtsgesetzes einzuhalten. Sie betragen:
bis zu 1,20 m Höhe 0,25 m,
bis zu 2,00 m Höhe 0,50 m,
bis zu 3,00 m Höhe 0,75 m,
bis zu 5,00 m Höhe 1,25 m,
bis zu 15,00 m Höhe 3,00 m,
bis zu 20,00 m Höhe 8,00 m,
bis zu 25,00 m Höhe 8,00 m,
bis zu 30,00 m Höhe 8,00 m,
über 30,00 m Höhe 8,00 m.
|128| Lieber Onkel Ömer, Du bist bestimmt schockiert, wie ernst die deutschen Naturfreunde es mit der Natur meinen. Besonders die
Punkte f), g), h) und i) haben Dich garantiert sehr beeindruckt. Ich musste zwei Tage ununterbrochen üben, um das korrekt
hinzukriegen, aber verstanden habe ich es nicht!
Unseren Schreber-Streber Hatice hatten wir bewusst mit einer kleinen Aufgabe betraut. Sie bekam die Regeln über die Gartenzwerge
zugeteilt, damit sie ihre Ansprüche jetzt schon ein bisschen zügeln kann. Sie rennt nämlich die ganze Zeit wie durchgedreht
durch die Wohnung und kreischt:
»Ich will einen Gartenzwerg als Speidermän, einen Barbie-Gartenzwerg, einen H.-P.-Gartenzwerg (zu Deiner Erklärung: H.P. ist
Härry Potter) und einen Gartenzwerg, der aussieht wie Mehmet.«
»Aber dein Bruder Mehmet wird doch sowieso leibhaftig da sein«, reklamierte ich, um die Kosten zu senken.
»Ja, aber den echten Mehmet darf ich doch nicht treten, wenn ich Lust dazu habe«, sagte sie giftig und fügte grinsend hinzu:
»noch nicht!«
Lieber Onkel Ömer, wir wollten unseren Kleingarten sehr symbolträchtig extra am zweiten Sonntag im Juni übernehmen, um der
riesigen Bedeutung des Tages gerecht zu werden. Das ist nämlich der Tag des Schrebergartens in Alamanya! Und er wird genauso
euphorisch gefeiert wie der Tag der Wiedervereinigung. Die alte DDR ist nämlich mittlerweile auch ein einziger leerer Garten,
nur ganz schön verseucht!
In der Nacht vor der Übergabe konnte ich vor Aufregung kaum schlafen. Was mir aber überhaupt nichts ausgemacht |129| hat. Ich war sogar sehr froh darüber, könnte ich doch schon bald in meinem Schrebergarten unter freiem Himmel an der frischen
Luft und in absoluter Ruhe so viel schlafen, wie ich nur wollte.
Am nächsten Tag sind wir sofort zu unserem tollen Schrebergarten gefahren.
Und wie ich vermutet hatte, war er eine echte Oase der Ruhe und Besinnung! Für fast vier Minuten. Alle vier Minuten donnerte
nämlich ein Güterzug an unserer Nase vorbei! Diese unglaublich schöne »Vier-Minuten-Ruhe« war natürlich nur auf der Vorderseite
unseres Kleingartens zu genießen. Die Hinterseite grenzte an eine sechsspurige Stadtautobahn, über die pro Sekunde sechs Autos
gleichzeitig bretterten. Dieser Anblick brachte uns vor Freude noch mehr aus dem Häuschen. Unsere sinnlosen und langweiligen
Tage waren für immer gezählt: Spannende gemeinsame Familienspiele in Form von Autokennzeichenraten wartete auf uns.
Stell Dir vor, wir hatten sogar Kiwi-, Oliven- und Feigenbäume für unseren ruhigen Kleingarten besorgt. Selbstverständlich
dürfen wir erst mal noch keine Früchte von denen erwarten, aber allein die Aussicht darauf, dass wir bald unsere eigenen Kiwis,
Oliven und Feigen ernten werden, wenn das mit der globalen Erderwärmung hoffentlich so schön weitergeht, das sind doch unglaublich
erfreuliche Aussichten!
Ich fing an, vor lauter Freude wie ein kleines
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