Lieber Onkel Ömer
Kleingartenkolonie »Grün-Glückliches-Klein-Istanbul«
nie glücklich werden kann. Grün bin ich aber schon seit unserer Ankunft – vor Wut!
Ich küsse Dir, Tante Ülkü und allen Älteren in unserem schönen Dorf ganz herzlich mit großem Respekt die erfahrenen Hände
und allen Jüngeren mit viel Liebe die hübschen, unschuldigen Augen.
Eminanim und die Kinder grüßen Euch selbstverständlich auch und küssen den Älteren mit viel Respekt die Hände und den Jüngeren
mit viel Liebe die Augen.
|133| Pass gut auf Dich auf, bleib gesund, iss genug Knoblauch und danke fünfmal am Tag Allah, dass durch Deinen Garten nicht alle
vier Minuten vollgeladene Güterzüge donnern!
Dein Dich über alles liebender Neffe aus dem sonnigen, nicht ganz grün-glücklichen Alamanya
PS: Lieber Onkel Ömer, meine deutschen Nachbarn tuscheln langsam über mich, ob ich mir denn wohl noch eine zweite Ehefrau
zugelegt hätte. Die türkischen tuscheln nicht mal mehr – sie sprechen es offen aus! Die im Schrebergarten sogar auch schon.
Kein Mensch glaubt, dass sie ein Gast ist. In Deutschland besuchen einen nicht mal die eigenen Eltern länger als drei Tage.
Und wenn doch, dann übernachten sie im Hotel.
»Ist sie für ein O-Pär-Mädchen nicht etwas zu alt?«, fragen die Nachbarn zweideutig.
»Sie ist ja auch kein O-Pär-Mädchen, sie ist eine Ärztin«, sage ich wahrheitsgemäß.
»Deine Frau ist ja plötzlich auch Ärztin. Brauchst du etwa zwei Ärztinnen?«, kichern sie dann.
Ich glaube, ich bin doch kein Türke, lieber Onkel Ömer, zumindest kein richtiger. Ich kann nicht mal den Gedanken ertragen,
dass die Menschen denken könnten, dass ich zwei Frauen hätte! Wie wohl meine Vorfahren mit vier richtigen Ehefrauen klargekommen
sind?
Aber die sind ja auch nicht mit ihren ganzen Frauen, wie ich, in der Bremer Innenstadt spazieren gegangen, sondern diese armen
Weiber hockten Tag und Nacht im Harem rum |134| und machten sich aus Langeweile gegenseitig das Leben zur Hölle. Was man von Eminanim und Ümmüyanim wirklich nicht behaupten
kann. Die verstehen sich super! Eigentlich müssten die Nachbarn glauben, dass die beiden miteinander verheiratet sind. Für
mich interessiert sich nämlich keine von beiden!
Wenn das so weitergeht, muss ich noch mal heiraten! Für die Nachbarn wäre die Neue meine dritte Frau, für mich aber die einzige.
Kannst Du bitte meine liebe Tante Ülkü fragen, ob sie etwas Passendes für mich im Dorf finden kann? Sie kennt sich doch auf
dem Heiratsmarkt bestens aus. Sag ihr, dass es sehr dringend ist. Gute Nacht!
Zeugnisvergabe
Mein lieber Onkel Ömer,
wie geht es Dir, und wie geht es meiner lieben Tante Ülkü? Wie geht’s der hübschen Kuh Pembe, wie geht’s der schwarz gepunkteten
Ziege Fatima, wie geht’s Deinem störrischen Esel Tarzan, und wie geht’s unserem guten alten Dorfvorsteher Hüsnü?
Lieber Onkel Ömer, gestern war in Deutschland der Tag der Zeugnisvergabe. Das ist der Tag, an dem Du früher wegen schlechter
Noten immer einen oder alle Deine Söhne verprügelt hast, wozu Du ja bei meinen fünf Cousins auch genug Gelegenheit hattest.
Hier in Deutschland ist das gesetzlich verboten, man darf die eigenen Kinder nicht verprügeln – fremde Kinder erst recht nicht
–, selbst dann nicht, wenn sie total schlechte Zeugnisse mit nach Hause bringen.
Wenn sie mal aus Versehen oder aus welchen Gründen auch immer gute Noten haben, wollen sie gleich ein neues Fahrrad, aber
bei schlechten Noten bekomme ich von denen keinen neuen Ford-Transit. Ich bin schon froh, dass ich nicht auch noch vom deutschen
Staat gezwungen werde, Geschenke zu kaufen.
Aber das ist nicht der einzige Unterschied zwischen der Türkei und Alamanya, was den Zeugnistag betrifft. In der |136| Türkei bekommen ja im ganzen Land alle Kinder am selben Tag ihre Zeugnisse. In Deutschland ist es anders. In allen Bundesländern
bekommen die Kinder die Dinger an einem anderen Datum. Du weißt, dass die Deutschen früher Reiseweltmeister waren. Die Verantwortlichen
hatten damals Angst, dass bei zeitgleicher Zeugnisvergabe das Land am nächsten Tag komplett leer wäre und problemlos von der
DDR, Polen und Russland überrannt werden könnte.
Aber jetzt könnte man eigentlich die Zeugnisvergabe endlich wieder vereinheitlichen. Der ganze Ostblock ist sowieso schon
hier. Die Leute, mit denen man uns jahrzehntelang Angst gemacht hat, wohnen jetzt einen Häuserblock
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