Lieber Onkel Ömer
schreibe Dir jetzt früh genug, damit Du
noch reichlich Zeit hast, bis dahin alles zu besorgen. Am Ende meines Briefes werde ich Dir noch alle meine Wünsche auf einem
Extrazettel (siehe Anlage: 6 Seiten) aufschreiben, damit Du Dir nicht unnötig den Kopf zerbrechen musst, was Du mir bloß schenken
sollst. Wir wollen doch nicht, dass Du mir aus Versehen das Falsche mitbringst, wie mein dusseliger Vater das immer tut –
ich meine, früher tat! Schade, dass Du Dich nicht ausschließlich nur um mich kümmern kannst, sondern Dich auch noch um die
anderen gierigen Kinder auf der Welt kümmern musst.
|189| Lieber Onkel Weihnachtsmann, mein Name ist Hatice Engin. Ich bin acht Jahre alt. Und ich habe bereits ein sehr schreckliches
Leben hinter mir. Ich weiß nicht, ob man es Dir bereits erzählt hat: Meine richtigen Eltern sind leider vor sechs Monaten
gestorben. Seitdem bin ich nur noch am Weinen. Davor eigentlich auch, aber alles der Reihe nach. Du denkst jetzt sicherlich
– so gutherzig wie Du nun mal bist –, dass der Tod meiner Eltern das Traurigste in meinem bisherigen langen Leben war, nicht
wahr? Aber das stimmt nicht! Da täuschst Du Dich gewaltig!
Mein brutaler Vater und meine schlimme Mutter sind an einem Wintermorgen mit ihrem Auto die Klippen hinuntergestürzt und waren
auf der Stelle tot. Natürlich hatte mein Vater wie immer jede Menge Alkohol getrunken, bis er dann sturzbesoffen auf mich
und meine Geschwister eingeprügelt hat. Meine Mutter, die eine richtige Schlampe war, hatte auch nie Lust, für uns Essen zu
kochen, und wollte lieber wie früher mit meinem Vater in die Kneipe gehen, um sich richtig einen zu ballern. Und in der Morgendämmerung
auf dem Nachhauseweg sind sie dann, wie gesagt, tödlich verunglückt. Der liebe Gott wollte mich damit sicherlich schützen,
dass ich nicht mehr von meinem Vater verprügelt werde. Ich muss zugeben, dass meine Trauer sich etwas in Grenzen hielt, weil
weder ich noch meine Geschwister unsere Eltern jemals gemocht haben. Aber das Leben als Vollwaise ist auch kein Zuckerschlecken,
sag ich Dir!
Lieber Weihnachtsmann, stell Dir mal vor, mit fünf Jahren hat mein Vater mich zu einem Schuster gegeben, und ich musste von
frühmorgens bis spätabends dreckige Schuhe |190| putzen und für diesen grässlichen Kerl ständig Tee kochen. Ich musste jahrelang ganz hart arbeiten und hab nichts zu essen
gekriegt, außer ein paar alten vergammelten Schuhsohlen, die ich vorher immer in ein bisschen Wasser aufgeweicht habe, um
sie kauen zu können. Jede Nacht habe ich in meinem kalten Zimmer fürchterlich geweint. Ich bekam nur eine ganz dünne Decke
aus Zeitungspapier und musste damit auf dem eisigen Betonboden schlafen. Und mindestens einmal im Monat haben mich meine Eltern
im Wald oder auf der Autobahn ausgesetzt. Als vierjähriges Mädchen mitten in der Nacht ganz alleine hundertfünfzig Kilometer
von München bis nach Bremen zu laufen, war jedes Mal die Hölle, sage ich Dir. Am Anfang hatte ich riesengroße Angst, dass
mich Wölfe angreifen könnten. Ich dachte, die werden mich gleich auffressen, wie sie das mit der lieben, armen Oma vom Rotkäppchen
getan haben. Aber die alte Frau hatte ja wenigstens noch ihre süße Enkelin, die sich um sie gekümmert hat, und dann hatte
sie auch noch diesen tapferen Jäger, der dem bösen Wolf wie Rambo den Bauch aufgeschlitzt und die Oma in einem Stück wieder
rausgezogen hat. Aber wer sollte mich denn retten, mitten auf der Autobahn? Weder die Polizei noch die Feuerwehr noch ein
tapferer Jäger haben sich blicken lassen; nicht mal der ADAC!
Dann haben mich meine gefühllosen Eltern jeden Tag zum Betteln gezwungen. Ich musste den ganzen Tag auf den kalten Steinen
in der Fußgängerzone sitzen, den Leuten irgendwelche Lügengeschichten erzählen, und dann haben sie mir anschließend auch noch
das bisschen Geld weggenommen, damit sie sich besaufen können. Das Beste, was ich von denen erwarten konnte, war eine Scheibe
trockenes Brot, und selbst das gab’s nur sonntags.
|191| Lieber Onkel Weihnachtsmann, das Leben kann wirklich hart sein, und für ein Waisenkind wie mich ganz besonders! Aber ich möchte
mich trotzdem nicht beklagen und will nicht, dass Du Mitleid mit mir bekommst und mich anschließend mit Deinen Geschenken
über alle Maßen bevorzugst. Wenn Du mir aber trotzdem mehr Geschenke geben willst als den anderen glücklichen Kindern, die
liebevolle
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