Lieber Onkel Ömer
Eltern haben und von ihren guten Eltern ohnehin jede Menge Geschenke bekommen, dann sage ich natürlich nicht Nein.
Das ist Deine Entscheidung, und ich muss es akzeptieren. Du übst diesen Beruf ja schon lange genug aus, um zu wissen, dass
man mit vielen schönen Geschenken auch sehr viel Leid mildern kann, selbst bei einer so armen, geschundenen Seele wie der
meinen …«
Lieber Onkel Ömer, wie Du Dir denken kannst, an dieser Stelle des Briefes konnte ich es nicht mehr aushalten, hab mir Hatice,
die gerade mit einem Eimer Erdbeereis strahlend ins Wohnzimmer kam, geschnappt und ihr gesagt:
»Sag mal, Hatice, glaubst du wirklich, dass wir dich vor sechs Monaten adoptiert haben?«
»Nein, Papa, wie kommst du denn da drauf? Das Eis schmeckt voll gut«, sagte sie ganz locker.
»Ja, weil du an den Weihnachtsmann geschrieben hast, dass deine wahren Eltern im Suff irgendwelche Klippen runtergestürzt
sind. Deshalb müssten wir doch so was wie Stief- oder Adoptiveltern für dich sein«, meinte ich vorwurfsvoll.
»Sag mal, Papa, hast du mir nicht immer gesagt, dass man keine fremden Briefe lesen darf?«, schimpfte sie sogar daraufhin
mit mir.
|192| »Das ist richtig! Aber du bist ja nicht fremd. Du bist meine Tochter, obwohl du da ja scheinbar anderer Meinung bist«, argumentierte
ich.
»Jetzt stell dich doch nicht so an, Papa! Das habe ich doch nur geschrieben, damit mir der Weihnachtsmann so richtig viele
Geschenke bringt. Ist doch klar, dass er für so ein armes, kleines Waisenkind mehr Geschenke ranschleppt als für die ganzen
Müttersöhnchen«, lachte sie, nahm einen großen Löffel Eis und war von ihrer Idee weiterhin genauso begeistert wie von dem
Erdbeereis.
»Na toll, deswegen hast du also mich und deine Mutter umgebracht?«, appellierte ich zum Schluss an ihr Gewissen.
»Ja, da hast du recht, das war vielleicht nicht so nett. Zuerst wollte ich ja auch die Wahrheit schreiben und dem Weihnachtsmann
sagen, was für ein elender Geizkragen du bist und dass ich deswegen nie richtig schöne Geschenke kriege. Aber dann habe ich
mich doch für die noch traurigere und dramatischere Geschichte entschieden. Ich denke, das wirkt besser. Wenn der Weihnachtsmann
bei meinem Brief nicht Rotz und Wasser heult, dann weiß ich auch nicht!«
Lieber Onkel Ömer, Du siehst, dass dieser Weihnachtskonsumterror in der Lage ist, selbst aus kleinen Kindern echte Monster
zu machen!
Selbstverständlich habe ich Hatice nicht erlaubt, diesen Brief an den Weihnachtsmann loszuschicken. Was sich aber sofort als
ein schlimmer Fehler herausstellte! Vorhin habe ich nämlich mit Schrecken beobachtet, wie sie heimlich an meinem Ford-Transit
rumfummelte. Ich befürchte, sie ist |193| schon eifrig dabei, ihre armen Eltern auch im wirklichen Leben ins Jenseits zu schicken.
Lieber Onkel Ömer, ich küsse Dir, Tante Ülkü und allen Älteren in unserem schönen Dorf ganz herzlich mit großem Respekt die
erfahrenen Hände und allen Jüngeren mit viel Liebe die hübschen, unschuldigen Augen.
Eminanim und die Kinder grüßen Euch selbstverständlich auch und küssen den Älteren mit viel Respekt die Hände und den Jüngeren
mit viel Liebe die Augen.
Pass gut auf Dich auf, bleib gesund, iss genug Knoblauch und danke fünfmal am Tag Allah, dass das Ramadanfest bei Euch tatsächlich
nur drei Tage dauert! Verglichen mit den wahnwitzigen Weihnachtsverhältnissen hier in Deutschland ist es doch wirklich ein
Segen, dass man in der Türkei nur einen einzigen Monat fasten muss, um das Zuckerfest feiern zu dürfen.
Dein Dich über alles liebender Neffe aus dem sehr durchwachsenen Alamanya
PS: Lieber Onkel Ömer, ich hoffe, ich kriege, bevor Hatice mich umgebracht hat, raus, wer diese Frau Ümmüyanim ist. Wie kann
man denn auf Kosten anderer so lange Urlaub machen? Wenn es wirklich auf Kosten anderer wäre, würde ich mich bestimmt nicht
so sehr aufregen, aber es ist ja auf meine Kosten.
Ist sie vielleicht eine gesuchte Mörderin auf der Flucht?
|194| Ist sie womöglich eine Schläferin, so oft und ausgiebig, wie sie schläft?
Bei dieser Frau ist irgendetwas faul. Ich will nicht mal genau wissen, was sie auf dem Kerbholz hat. Ich habe das unangenehme
Gefühl, etwas wirklich Schlimmes verbirgt sich dahinter.
Dir trotzdem eine angenehme Nachtruhe! Schlaf gut!
|195|
Ramadan
Mein lieber Onkel Ömer,
wie geht es Dir, und wie geht es meiner lieben Tante Ülkü? Wie geht’s der
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