LIEBES LEBEN
aufgegeben. Aber heute habe ich es getan. Fortschritt! Ihm nachzusehen, als er geht, ist ein bisschen, als schaute ich dem Schwanz einer der Ratten in meiner Wohnung hinterher. Er hat mehr Angst vor mir als ich vor ihm.
24
In der Mittagspause fand ich bei Ann Taylor ein wunderschönes Kleid. Es ist 50er-Jahre-Stil, ziemlich retro, in schwarz, auf Taille geschnitten, mit einem Wilma-Feuerstein-Rock. Wenn ich dazu meine Sonnenbrille aufsetzte, fühle ich mich wie Audrey Hepburn - nur ein bisschen breiter. Aber da meine Verabredung abends ist, brauche ich meine coole Sonnenbrille leider nicht, und da Kevin fährt, muss ich mir auch nicht überlegen, wie ich möglichst elegant aus meinem Auto aussteige. Aber an meinen Haltungsnoten muss ich noch arbeiten, wie man an dem Zwischenfall heute morgen im Café mal wieder sehen konnte.
Ich habe mir sogar einen neuen Lippenstift gekauft: ein Beweis dafür, dass ich Seth der Vergangenheit überlassen habe und Kevin somit eine neue Farbe wert ist. Ich lasse mich von Kevin von der Arbeit abholen, weil ich noch nicht weiß, wo ich heute schlafen werde, und das hört sich beängstigend merkwürdig an. Ich habe versucht, Kay zu erreichen, um meinen Aufenthalt in ihrem Musterhaus-Gästezimmer zu verlängern, aber sie ist weder zu Hause noch im Büro, also sehe ich das als ein Zeichen - so ähnlich wie wenn ein Totenkopfzeichen an der Tür hängt.
Brea meinte, ich sei herzlich willkommen bei ihr, und höchstwahrscheinlich werde ich auch zu ihr gehen, weil wir ohnehin noch über meine Verabredung tratschen wollen. John wird unser unaufhörliches Gekicher leider auf die Nerven gehen, so dass er früh ins Bett gehen wird. Morgen werde ich eine Wohnung finden, und wenn ich bis zum Umfallen suchen muss. Manche würden wahrscheinlich sagen, dass ich meine Prioritäten nicht richtig setze, weil das Kleid vor der Wohnungssuche kommt. Aber es heißt Essen, Kleidung, Obdach - in dieser Reihenfolge. Verbessern Sie mich, wenn ich falsch liege, aber Obdach kommt zuletzt. Ich glaube, meine Grundinstinkte sind noch in Ordnung.
Brea hat mich mit dem Einkaufengehen mal wieder im Stich gelassen, und so blieb mir nur der verfluchte dreiseitige Spiegel in der Umkleide, um die berühmte Frage zu beantworten: Sieht mein Hintern in diesem Kleid zu dick aus? Beim Einkaufen fiel mir ein, dass ich ja noch ein paar Sachen in der Reinigung habe, also habe ich außer dem einen Koffer für Taiwan noch drei weitere Kombinationen, bevor es zu einer echten Lebenskrise kommt.
Es ist sieben Uhr abends, und ich fange langsam an, unruhig in meinem Büro auf und ab zu gehen. Zu meinem Verdruss arbeitet Dianna heute länger. Da ich sie tagsüber nie wirklich habe arbeiten sehen, bin ich gespannt, was sie abends macht. Aber wahrscheinlich ist es nur ein Vorwand für sie, um morgens erst um zehn kommen zu müssen.
»Du musst nicht dableiben. Ich komme schon klar«, meint Dianna.
Wenn ich mich umschaue und all die müden Ehemänner sehe, die hier bis spät abends arbeiten, kann ich mir vorstellen, dass sie allein klarkommt. Aber wäre das nicht gerade ein Grund, sie nicht alleine zu lassen? »Warum gehst du nicht einfach heim, Dianna?«
»Weil ich ans Telefon gehen muss - falls Taiwan anruft.«
Aha, sie hat also einen Grund. »Ich warte auf meine Verabredung.« Dabei straffe ich meine Schultern und zeige mein grandioses neues schwarzes Kleid.
»Mit dem Typ, den du heute morgen im Büro so bedrängt hast? Er sah zu Tode erschreckt aus.« Sie kichert, und ich spüre, wie sich meine Hand instinktiv zur Faust ballt. Wir sind wie zwei kämpfende Katzen. Ich atme tief durch. Ich bin Christ. Ich halte die andere Wange hin. »Nein, ich treffe mich mit einem Chirurgen, den ich in Stanford kennen gelernt habe.« Fauch!
»Aber bedränge ihn nicht so.«
Alles in mir schreit danach, ihr zu sagen, dass sie die allerletzte Person ist, von der ich einen Rat über Männer annehmen würde, aber ich lächle nur. Es genügt, dass ich dreimal so viel verdiene wie sie und den passenden Wortschatz habe, um mit einem Arzt auszugehen. Wenn es doch nur leichter wäre, eine Sekretärin hinauszuwerfen, jammere ich innerlich. Leider könnte eher Dianna mich rauswerfen.
Plötzlich bekomme ich Gewissensbisse, und Gott spricht zu mir und zeigt mir, wie schwer Dianna es in ihrem Leben hat. Natürlich macht sie ihr Leben zu dem, was es ist. Aber tun wir das nicht alle? Er will, dass ich das Gute in ihr sehe und hinter ihre plumpe Aufmachung, das
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