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Liebesdienste / Roman

Liebesdienste / Roman

Titel: Liebesdienste / Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kate Atkinson
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»Freundin« klang dumm, Jungen hatten Freundinnen. Jackson überlegte, was er täte, würde er die Ermittlungen leiten. Würde er seinen Angaben ebenso misstrauen wie Louise Monroe, oder hätte er bereits Boote mit Tauchern rausgeschickt und ließe Polizisten den Strand absuchen?
    »Die meisten Menschen sind aufgewühlt, wenn sie eine Leiche finden«, sagte Louise Monroe. »Schock und Entsetzen sind die üblichen Reaktionen, aber Sie wirken bemerkenswert ruhig, Mr. Brodie. Haben Sie schon einmal eine Leiche gesehen?« Was glaubte sie – dass er eine junge Robbe mit einer Frau verwechselt hatte, ein Bündel Treibholz mit einer Leiche?
    »Ja«, sagte er, und die Erschöpfung verlieh ihm endlich Biss. »Ich habe Hunderte von Leichen gesehen. Ich weiß genau, wie eine Leiche aussieht, ich weiß, wie eine Leiche aussieht, wenn sie in die Luft gesprengt, verbrannt, aufgehängt, ertränkt, erschossen, erstochen, zu Tode geprügelt und in Stücke gehackt wurde. Ich weiß, wie Leute aussehen, wenn sie sich vor einen Zug werfen, der hundertsechzig Stundenkilometer fährt, wenn sie einen ganzen Sommer lang in einer Wohnung verwesen und wenn sie im Alter von drei Monaten aus keinem offensichtlichen Grund im Schlaf sterben. Ich weiß, wie eine Leiche aussieht, okay?«
    Das Mannweib von Kriminalmeisterin in Louise Monroes Begleitung schien ihm Handschellen anlegen zu wollen, aber Louise Monroe nickte und sagte: »Okay«, und dafür mochte er sie. »Polizei?«, fragte sie, und er sagte: »Ex. Militär- und Kriminalpolizei, Cambridge.« Name, Rang und Nummer, erzähle dem Feind nichts anderes.
    Irgendwo in der Einsatzzentrale, erklärte sie, musste jemand entschieden haben, dass die Frau möglicherweise noch am Leben war, und die Küstenwache hatte ein Boot losgeschickt und einen RAF -Helikopter gerufen. »Sie können also aufhören, sich Sorgen zu machen, Mr. Brodie.«
    »Sich Sorgen machen« war nicht unbedingt der Ausdruck, den er verwendet hätte. »Es ist sinnlos«, sagte er, »sie war tot.« Jedes Mal, wenn er es sagte, schien sie ihm weiter zu entgleiten. »Wurde ein Mädchen vermisst gemeldet?«, fragte er. Es wurden immer Mädchen vermisst, es waren immer Mädchen vermisst worden, und es würden immer Mädchen vermisst werden. Es wurden keine Frauen oder Mädchen vermisst, auf die seine Beschreibung passte, erklärte Louise Monroe.
    »Wahrscheinlich ist sie noch nicht vermisst gemeldet worden«, sagte Jackson. »Sie war noch nicht lange im Wasser. Und manchmal dauert es, bis jemand merkt, dass jemand anders nicht da ist, wo er sein sollte. Und manche werden nie vermisst. Nicht alle haben jemanden, der merkt, wenn sie verschwunden sind.« Wer würde ihn vermissen? Julia, Marlee, das war’s. Ohne Julia wäre es nur Marlee.
    »Haben Sie die Eule dabei? In Ihrer Tasche vielleicht?«
    Jackson runzelte die Stirn. »Wie meinen Sie das?«
    »Ich habe mich gerade gefragt, ob Sie die Eule dabeihaben, die Eule, die Sie nach Athen tragen wollen.« Sie war ein griesgrämiges kleines Ding. Nicht wirklich klein, größer als Julia, aber andererseits waren alle größer als Julia.
    Jackson fragte sich, ob sie jemanden hatte, der ihr Verschwinden bemerken würde. Kein Ehering, aber das hieß nichts. Seine eigene Frau (Exfrau) hatte nie einen Ring getragen, sie hatte nicht einmal seinen Namen angenommen. Interessanterweise befand sich jedoch auf der Weihnachtskarte, die sie ihm letztes Jahr geschickt hatte, ein kleiner Adressaufkleber, auf dem unmissverständlich stand: »Mr. und Mrs. D. Lastingham«. Jackson hatte seinen Ehering immer getragen. Erst Ende letzten Jahres hatte er ihn abgezogen und bei einem Wochenendausflug nach Paris vom Pont Neuf in die Seine geworfen. Es hätte eine dramatische Geste werden sollen, letztlich ließ er ihn einfach nur fallen – ein kurzes Aufblitzen von Gold in der Wintersonne –, weil ihm peinlich war, was die Leute von ihm denken könnten
(trauriger Verlierer mittleren Alters, dessen Scheidung endlich rechtskräftig ist).
    »Könnte Selbstmord gewesen sein«, spekulierte er. (Ja, offenbar hatte er die Eule dabei.) »Allerdings sind junge Frauen nicht dafür bekannt, dass sie ins Wasser gehen. Vielleicht ist sie einfach ins Wasser gefallen, vielleicht war sie betrunken. Eine Menge Mädchen betrinken sich heutzutage.«
    Eines Tages würde sich seine Tochter Marlee zweifellos betrinken. Statistisch gesehen würde sie in der Pubertät Zigaretten rauchen, mindestens einmal Drogen nehmen, mit dem

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