Liebesdienste / Roman
Natürlich kannte er sie nicht.
»Die Neurotische«, sagte Julia (nicht sehr hilfreich, sie waren alle neurotisch, soweit Jackson es beurteilen konnte). »Kann ihren Text nicht. Hängt noch immer am Buch.«
»Wirklich?« Jackson versuchte, ein bisschen empört zu klingen.
»Es war heute die ganze Zeit zu spüren, Gott sei Dank haben wir morgen noch eine Probe. Hast du meine Nachricht wegen der Karte für die Richard-Moat-Veranstaltung bekommen?«
Das hatte der Text der SMS also bedeutet. Der Name Richard Moat kam ihm vage bekannt vor, aber er konnte ihm kein Gesicht zuordnen. »Wie kommst du zu der Freikarte?«, fragte er.
»Ich habe heute Mittag mit ihm etwas getrunken. Da hat er sie mir gegeben.«
»Nur du?«
»Ja. Nur ich.« Er erinnerte sich deutlich, dass sie keine Zeit zum Mittagessen hatte.
Wir müssen über Mittag arbeiten
. Jackson runzelte die Stirn.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Julia. »Richard Moat ist nicht mein Typ.«
»Ich mache mir keine Sorgen.«
»Du machst dir immer Sorgen, Jackson. Das ist dein Normalzustand. Du könntest mich nachher abholen. Wir werden noch
Stunden
brauchen.« Julia seufzte, drückte ihre Zigarette aus und fragte, als wäre es ihr gerade erst eingefallen: »Wie war dein Nachmittag?«
Jackson dachte an all die Dinge, die er erzählen könnte
(Ich wäre beinahe ertrunken, ich habe eine Leiche gefunden, ich habe eine riesige, sinnlose Suche in der Luft und auf dem Wasser in Gang gesetzt, und ach, die Polizei hält mich für einen paranoiden, verblendeten Irren),
und entschied sich für: »Ich war in Cramond.«
»Wie schön, hast du Fotos gemacht?«
»Ich habe die Kamera verloren.«
»Nein! Unsere Kamera? Oh, Jackson, das ist schrecklich.« Er fühlte sich seltsam gerührt, als sie »unsere Kamera« und nicht »meine Kamera« sagte.
Von Julias Standpunkt aus war es vermutlich schrecklich, aber verglichen mit allem anderen, was er an diesem Nachmittag erlebt hatte, fiel es ihm schwer, sich deswegen aufzuregen. »Ja«, sagte er. »Tut mir leid.«
Er begleitete sie zurück in den inneren Kreis der Hölle, sah zu, wie sie die Bühne betrat und ihren Platz in der von Angst beherrschten Szene einnahm, in der sie zehn Minuten lang auf ein schwarzes Quadrat starren musste, das im Moment (es war ein multifunktionelles Stück Kulisse) ein auf einen wütenden arktischen Sturm hinausgehendes Fenster darstellen sollte – was Jackson nur wusste, weil er mit Julia in London den Text geübt hatte. Er vermutete, dass er im Notfall für sie hätte einspringen können (und das wäre wirklich ein Albtraum). Die stumme Pose, in der sie dastand, hatte etwas Nobles und Tragisches, mit dem Sackleinen und dem zerzausten Haar sah sie aus, als hätte sie etwas unaussprechlich Schreckliches überlebt. Er fragte sich, ob sie an ihre eigene Vergangenheit dachte, wenn sie solche Szenen spielte.
Er drehte sich um und suchte sich einen Weg aus dem Gebäude. Als er in der Ferne das Sirenengeheul eines Polizeiautos hörte, schlug sein Herz schneller, und er verspürte die altbekannte Aufregung. Als der Helikopter und Boote in Cramond eintrafen, hatte er unbedingt die Kontrolle übernehmen wollen, und es war ihm erstaunlich schwergefallen, dabei zuzusehen, wie Louise Monroe das Heft in der Hand hatte. Zweimal hatte er an diesem Tag erleben müssen, dass Frauen, die jünger waren als er, über mehr Autorität verfügten. Es hatte nichts damit zu tun, dass sie Frauen waren (sein einziges, geliebtes Kind war schließlich ein Mädchen), sondern mehr damit, dass Jackson kein Mann war. Kein richtiger Mann. Ein richtiger Mann nahm von einer alten toten Dame kein Geld an und lebte von da an in Frankreich. Er vermisste seinen Dienstausweis, er vermisste sein Kind, er vermisste seinen iPod, den er versehentlich zurückgelassen hatte. Er vermisste die Frauen mit den traurigen Stimmen, deren Schmerz er hatte teilen dürfen. Lucinda, Trisha, Eliza, Kathryn, Gillian, Emmylou. Am meisten vermisste er Julia, und doch war sie es, die bei ihm war.
Da er nichts Besseres zu tun hatte, als in einem leeren Bett zu liegen und darüber nachzudenken, was er alles nicht hatte, ging er los und holte seine Eintrittskarte für Richard Moat.
Jackson kannte Richard Moat noch aus den achtziger Jahren, er hatte ihn damals nicht komisch gefunden und fand ihn jetzt nicht komisch. Ebenso erging es den meisten Zuschauern – Jackson war schockiert, wie böse manche Zurufe und Pfiffe klangen. Ein paarmal döste er ein, aber
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