Liebeskind
an.
„Für ein Elterngespräch ist jetzt wirklich keine Zeit, liebe Frau Greve.“
„Wir sind dienstlich hier, Frau Gerber“, entgegnete Anna und erinnerte sich schuldbewusst, dass sie noch immer keinen Termin wegen Bens schulischer Leistungen vereinbart hatte.
„Es geht noch einmal um Rainer Herold und Torsten Lorenz. Von welcher Altersstufe an haben Sie diese Klasse eigentlich geleitet?“
„Da muss ich überlegen. Sie sind meine erster Jahrgang nach dem Umzug gewesen.“ Astrid Gerber kaute auf dem Bügel ihrer Brille herum. „Ich habe die Klasse damals von Herrn Dr. Grütter übernommen, der kurz danach in Pension gegangen ist. Also von der zehnten bis zum Abitur.“
„Die Person, nach der wir suchen, könnte der Klasse zu diesem Zeitpunkt eventuell schon gar nicht mehr angehört haben. Daher müssen wir mit einem Ihrer Kollegen sprechen, der die betreffenden Schüler bereits vor der Oberstufe unterrichtet hat. Haben Sie noch Kontakt zu Herrn Grütter?“
„Ich bin mir nicht einmal sicher, ob der Kollege Grütter überhaupt noch lebt. Am besten, Sie erkundigen sich im Sekretariat nach ihm, das ist die Tür gleich links neben dem Lehrerzimmer.“
Astrid Gerber wandte sich erneut ihrem Stapel Hefte zu. Anna zögerte, sie überlegte kurz, ob sie mit der Lehrerin gleich noch einen Termin wegen Ben vereinbaren sollte, kam dann aber zu dem Schluss, dass dafür nicht der richtige Moment war. Sollte sich doch Tom zur Abwechslung einmal darum kümmern, dachte Anna kampflustig.
Die Schulsekretärin, Frau Mondt, war eine elegant gekleidete Dame in den fünfzigern, die den Vorgänger von Astrid Gerber sicher noch kennen gelernt hatte.
„Herr Dr. Grütter lebt schon lange im Ausland. In Spanien, auf Mallorca, glaube ich, auf jeden Fall ist es irgendeine Baleareninsel. Früher hat er uns noch ab und zu eine Ansichtskarte von dort geschrieben.“
„Haben Sie seine Adresse vielleicht noch irgendwo gespeichert?“
„Nein, tut mir leid. Aber ich werde mich für Sie umhören. Es könnte gut sein, dass noch jemand aus dem Kollegium Genaueres über den Verbleib von Herrn Dr. Grütter weiß. Ich rufe Sie an.“
„Gibt es hier sonst noch einen Lehrer, der die betreffende Klasse in der Zeit vor der Oberstufe unterrichtet hat?“
Frau Mondt überlegte, dann zuckte sie bedauernd die Schultern.
„Nicht dass ich wüsste, in unserer Schule hat während der letzten fünf Jahre ein Generationswechsel innerhalb des Lehrerkollegiums stattgefunden. Ich werde aber darüber nachdenken, welche der pensionierten Lehrkräfte außer Herrn Grütter Ihre Fragen noch beantworten könnten.Wie schon gesagt, ich melde mich wieder bei Ihnen.“
Im Rückspiegel beobachtete Elsa, wie eine aufgetakelte Schnepfe ihre Kinderfreundin Doreen in den Arm nahm. Es war eine von diesen Frauen, die sicher heute noch schwarze Lackschuhe in ihrem Schrank stehen hatten. Es schien, als ob die beiden noch etwas vorhätten, daher entschloss sich Elsa, ihnen zu folgen. Sie bog von der Hauptstraße ab, wendete, parkte und ging zu Fuß an die Kreuzung zurück. Vorsichtig spähte sie um die Ecke. Doreen fuhr gerade los, die andere Frau setzte sich mit einem türkisfarbenen Hausfrauengeländewagen hinter sie. Gleich würden sie an Elsa vorbeikommen. Doch mittlerweile hatte Elsa Übung darin, jemanden zu verfolgen, ohne dass der Verfolgte es bemerkte. Der Konvoi machte sich in das Neubaugebiet von Maschen auf und hatte kurz darauf sein Ziel erreicht. Doreen parkte am Straßenrand, der türkisfarbene Barbiewagen unter einem Doppelcarport vor einer Doppelhaushälfte.
„Ich könnte dir auch einen Kakao kochen, du siehst echt schrecklich aus“, hörte Elsa die Schnepfe gerade flöten. Doreens Antwort war dagegen nicht zu verstehen. Elsa wartete, bis die Frauen im Eingang des Doppelhauses verschwunden waren, und stieg dann aus. Die Spielstraßen in der Neubausiedlung waren weihnachtlich geschmückt, kein Fenster, in dem nicht selbst gebastelte Papiersterne oder großflächig mit Hilfe von Schablonen gemalte Krippenstillleben klebten.
Während sie wartete, waren ihre Gedanken bei Vera. Ihre Mutter hatte sich nie die Zeit genommen, in den Adventswochen gemeinsam mit ihren Kindern etwas zu basteln. Die Schablonen für Weihnachtsmotive wären sowieso zuteuer gewesen, aber etwas Stroh oder ein paar Rollen Metallfolie hatte es auch damals schon für ein paar Mark in jedem Bastelgeschäft gegeben. Allerdings war Vera immer viel zu sehr mit sich selbst
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