Liebeslied für einen Fremden: Das Buch der Liebe (German Edition)
los zu lassen, als ob sie bei dieser Geste erschreckte.
Frederik war darauf genauso wenig vorbereitet gewesen, besaß jedoch die nötige Routine, Gelassenheit zu demonstrieren.
„Der Wein ist wundervoll“, stellte Sarah indes hastig fest, als wollte sie so schnell wie möglich zu einem unverfänglichen Thema zurückkehren.
Frederik setzte sich ihr gegenüber in den zweiten Korbsessel, der auf dem Balkon zusammen mit dem runden Tisch gerade noch Platz fand. Dann zauberte er buchstäblich aus dem Nichts einen Teller mit Käse, Oliven und anderen Köstlichkeiten.
„Wie wär´s damit?“
„Großartig! Danke, Frederik, vielen Dank.“
„Du beschämst mich, denn ich verdiene diesen Dank nicht. Bedanke dich bei unserer Gastgeberin. Claire hat Wein und Käse und etwa ein Dutzend weiterer Leckereien für uns im Kühlschrank eingelagert.“
„Meine Güte, das hätte sie wirklich nicht tun müssen“, fand Sarah.
Frederik schmunzelte. „Nein, aber sie ist nun mal so. Die walisische Gastfreundschaft setzt sich auch bei Claire immer wieder durch. Ich glaube, das vererbt sich von Generation zu Generation. Und weißt du was? Ich gehe jede Wette ein, dass auch Claire, wenn sie eines Tages ihr letztes Stündlein nahen fühlt, auch nur noch `nach Hause` will.“
„Begrabt mich nicht in fremder Erde“, erinnerte Sarah sich halblaut an einen Satz von Claire, woraufhin Frederik mit einem kleinen Lächeln meinte:
„Genau. Jeder Mensch hat eben seine Reservate, wie es in der Psychologie immer heißt. – Wo warst du als kleines Mädchen zu Hause, Sarah?“
Sie runzelte die Stirn, dachte nach. „Eigentlich nirgends so richtig. Meine Eltern sind sehr viel hin und her gezogen. Von der Geltinger Bucht an der Ostseeküste immer kreuz und quer durch das Land. Mein Vater war ein echter, wortkarger und dickköpfiger Friese von der Westküste,
von Beruf Bootsbauer, sehr bodenständig. Aber er hatte eine Wienerin geheiratet, die in Norddeutschland nie heimisch wurde.“
„Das hört sich schwierig an“, ahnte Frederik.
„Mehr als das“, erinnerte Sarah sich. „Als ich Zwölf war, verließ mein Vater uns. Nicht wegen einer anderen Frau, sondern weil er meine anstrengende Mutter wohl nicht mehr ertrug. Ich weiß es nicht. Er hat es mir nie erklärt und ich habe ihn danach nie mehr gesehen. Meine Mutter nahm mich mit nach Wien, wo ich todunglücklich war. Also schickte sie mich zurück nach Deutschland, wo ich bei der friesischen Verwandtschaft aufwuchs.“
Sie schwieg einen Moment, schien die Stille zu brauchen, um den Satz sagen zu können, mit dem sie schließlich ihre gesamte Kindheit zusammenfasste:
„Ich war ein Kind, das ständig weiter gereicht wurde, noch ehe es irgendwo richtig angekommen war.“
Frederik war ganz ernst. „Und was ist aus diesem Kind geworden?“
„Als ich Siebzehn war, zog ich in eine WG in Lübeck, machte dort das Abitur, ging zum Studium nach Kiel…“ Plötzlich hielt sie inne. Einen quälenden Augenblick lang fragte sie sich, ob das wirklich sie war, die hier Dinge von sich preisgab, die sie noch nie ausgesprochen hatte, erst recht nicht einem völlig Fremden gegenüber, und Frederik war ein Fremder, obwohl er Gregor Beckers Sohn war.
Der Raum zwischen ihr und Frederik schien sich plötzlich auszuweiten zu einem ungeheuren Abgrund, so tief, dass sie kaum noch seine Stimme hören konnte, als er sagte:
„Dann warst du eigentlich nirgendwo zu Hause?“
„Richtig“, erwiderte sie sachlich, drückte aber gleichzeitig eine Hand auf die Stelle über ihrem Herzen, wie um einen Schmerz zu bezwingen – doch der saß viel, viel tiefer.
„Hat dich das nicht belastet?“ wollte Frederik wissen.
„Nein“, sagte sie wieder. „Ich habe auf diese Weise viel gesehen und gehört und mein Leben früher als meine Altersgenossen selbst bestimmt.“
„Das Konzert heute Abend, Sarah… Du hast geweint. Vielleicht um deine Kindheit?“
Sarahs Gesicht verschloss sich, um ihre Augen erkannte Frederik eine große Müdigkeit.
„Kommt jetzt der psychologische Teil des Abends?“ versuchte sie witzig, zu sein. Trotzdem klang ihre Stimme herb, als sie fortfuhr: „Nein. Ich hörte Beethovens Neunte vor vielen Jahren zum ersten Mal während des Studiums in Kiel, da hatte ich mit einigen anderen Studenten gerade noch einen Stehplatz ergattert.“
Sie schwieg plötzlich. Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde weicher, während ihr Blick an Frederik vorbei ins Leere ging.
„Einige Tage vor dem
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