Liebesmaerchen in New York
»Das hast du schon einmal gesagt. Lang sind sie jedenfalls. Bis mein Bruder die Highschool abgeschlossen hatte, war ich größer als er. Weil er darüber wütend war, nannte er mich ›Lange‹.«
»Ich war der ›Dünne‹.«
»Der Dünne?«
»Kennst du die Bilder mit dem achtzigpfündigen Schwächling? So habe ich ausgesehen.«
Über den Rand ihres Glases hinweg betrachtete Hester seinen kräftigen Oberkörper. »Das kann ich nicht glauben.«
»Eines Tages, wenn ich einmal zu viel getrunken habe, zeige ich dir vielleicht ein paar Fotos.«
Mitch bestellte das Essen in perfektem Französisch. Hester starrte ihn an. Das also ist der Comicschreiber, der Forts aus Schnee baut und mit seinem Hund redet, dachte sie.
Mitch, der ihren Blick bemerkt hatte, hob die Brauen. »Ich bin während meiner Schulzeit ein paar Jahre in Paris gewesen.«
»Ach, deshalb.« Das erinnerte Hester an seine Herkunft. »Leben deine Eltern eigentlich in New York?«
»Nein.« Er brach ein Stück von dem knusprigen französischen Weißbrot ab. »Meine Mutter lässt sich hin und wieder mal hier blicken, zum Einkaufen oder um ins Theater zu gehen, und mein Vater kommt gelegentlich aus geschäftlichen Gründen, aber New York ist nicht ihr Stil. Sie leben immer noch den größten Teil des Jahres in Newport, wo ich aufgewachsen bin.«
»Oh, in Newport. Als ich noch ein Kind war, sind wir einmal durch Newport gefahren. Wir machten in den Ferien meist Fahrten ins Blaue mit dem Wagen. Ich kann mich an die Häuser dort noch genau erinnern. Diese riesigen Herrenhäuser mit Säulen inmitten blühender Gärten. Wir haben sie sogar fotografiert. Kaum zu glauben, dass darin wirklich Menschen wohnten.« Sie hielt inne und blickte in Mitchs amüsiertes Gesicht. »Du hast darin gelebt.«
»Das ist zu komisch. Ich saß oft mit dem Fernglas am Fenster, betrachtete die Touristen und habe sie sehr beneidet.«
»Tatsächlich? Wieso?«
»Weil sie Ferien machten und heiße Würstchen essen konnten. Ihr durftet in Motels übernachten und unterwegs im Auto Bingo spielen.«
»Ja«, murmelte sie. »So war es.«
»Glaub nur nicht, ich wollte dir die Nummer vom armen reichen Jungen vorspielen«, fügte er hinzu, als er ihren Gesichtsausdruck bemerkte. »Ich will damit nur sagen, dass ein Haus zu haben nicht unbedingt besser sein muss, als einen Kombi zu besitzen.« Er goss ihr noch etwas Champagner ein. »In meinem Fall hat die Rebellion gegen den Besitz von Geld schon vor langer Zeit aufgehört.«
»Das kann ich kaum glauben von jemandem, der seine Louis-Quinze-Möbel verstauben lässt.«
»Das hat nichts mit Rebellion zu tun. Das ist reine Faulheit.«
»Und eine Sünde. Ich bin jedes Mal versucht, sie mit einem Tuch und Zitronenöl abzureiben.«
»Nur keine Hemmungen. Du bist jederzeit willkommen.«
Sie lächelte. »Was hast du denn in deiner Rebellionsphase angestellt?« Hester strich ihm mit den Fingerspitzen über die Hand, und es kam ihr ganz natürlich vor.
Mitch sah von ihrer Hand auf in ihr Gesicht. »Willst du das wirklich wissen?«
»Ja.«
»Dann treffen wir ein Abkommen. Meine leicht verkürzte Lebensgeschichte gegen deine.«
»Gut. Aber du fängst an.«
»Ich erzählte dir schon, dass meine Eltern aus mir gern einen Architekten gemacht hätten. Das war für sie die einzig akzeptable Verwertbarkeit meines zeichnerischen Talents. Kaum war ich jedoch aus der Highschool entlassen, da entschloss ich mich, mein Leben der Kunst zu weihen.«
Die Vorspeisen wurden serviert. Mitch seufzte genießerisch beim Anblick der Schnecken.
»Und so bist du nach New York gekommen?«
»Nein. Nach New Orleans. Da ich mich weigerte, die Hilfe meiner Eltern in Anspruch zu nehmen, war New Orleans das, was ich mir leisten konnte und das Paris am nächsten kam. Und ich habe New Orleans geliebt. Ich hungerte, aber ich liebte die Stadt. Diese feuchtheißen Nachmittage, der Geruch des Flusses. Es war mein erstes großes Abenteuer.«
»Und was hast du in New Orleans gemacht?«
»Meine Staffelei am Jackson Square aufgestellt und mir meinen Lebensunterhalt mit dem Zeichnen von Touristen und dem Verkauf von Aquarellen verdient. Drei Jahre lang wohnte ich in einem winzigen Zimmer und war äußerst glücklich.«
»Was geschah dann?«
»Es gab da eine Frau. Ich glaubte, ich sei verrückt nach ihr, und umgekehrt. Sie stand mir Modell, als ich meine Matisse-Periode durchmachte. Du hättest mich damals sehen sollen. Mein Haar war fast so lang wie deins, und ich hatte
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