Liebesnächte in der Taiga
der Kopf sank nach hinten; und als er brüllte, war es, als schrie er zu Gott und klopfe mit seiner Stimme an den Himmel.
»Deutsche!« schrie er. »Kameraden! Jungs … Haltet mich fest, ehe ich wahnsinnig werde …«
»Das ist 'n Ding«, sagte der erste der drei, sprang mit zwei Sätzen zu dem auf dem Boden liegenden Gewehr und riß es an sich. Dann stürzten sich die anderen auf Semjonow, hielten ihn fest, drehten ihm die Arme auf den Rücken und schleppten ihn zur Wand des Schuppens. Dort stellten sie ihn hin und umringten ihn.
»Woher kannst du Deutsch, Freundchen?« fragte einer. Er sprach nun wieder russisch, und Semjonow hörte beglückt, daß es ein angelerntes, einfaches Russisch war. »Warst du in Deutschland, was? In Gefangenschaft? Nun red schon, Iwan.«
»Kommt in die Hütte.« Semjonow antwortete deutsch. »Ludmilla kocht eine Kascha, und Tee ist auch bereit. Wärmt euch, Jungs, und zieht die nassen Klamotten aus. Oder wollt ihr euch den Pips holen?«
»Der ist tatsächlich 'n Deutscher!« sagte der erste und riß seine Fellmütze vom Kopf. »Pips! Das kann nur ein Deutscher sagen. Junge, wo kommst du denn her?«
Sie umarmten Semjonow, sie schlugen sich auf die Schultern, und dann führte Semjonow sie in die saubere Hütte, aus der ihnen der Duft von Salzfleisch entgegenschlug.
Es wurde Abend, ehe man am Tisch zusammensaß und über alles sprach. Vorher hatten die drei Männer Holz gehackt und Kessel, Töpfe und Pfannen aus einem Versteck geholt, das unter dem Schuppen lag. Auch zwei Tönnchen mit Sauerkohl brachten sie mit und zehn Flaschen Wodka. Dann holten sie aus dem Boot Decken und zwei Kisten mit Konserven, ein Säckchen Mehl und ein Säckchen Grieß, einen Karton Milchpulver und einen Blecheimer voll Zucker.
Später hockten sie um den Tisch, rauchten Machorka aus selbstgeschnitzten Pfeifen und tranken Tee mit Wodka aus verbeulten Blechbechern.
Semjonow hatte ihnen seine Geschichte erzählt. Nun saßen sie da, starrten vor sich hin und kauten auf den Pfeifenmundstücken.
»Und wer seid ihr?« fragte Semjonow.
»Ich bin Egon Schliemann«, antwortete der Mann mit der Narbe über den Augen. Er hatte braune Haare und einen runden Kopf. »Aus Recklinghausen. War dort auf der Zeche Betriebselektriker. Hatte noch 'ne Mutter. Ob sie noch lebt …«
Er sah an Semjonow vorbei, und wer jetzt in seine Augen blickte, sah die Stadt mit den Fördertürmen und Kokereien, sah die Straßen der Bergarbeitersiedlungen, die Gärtchen hinterm Haus, die Ziege im Stall, die Karnickelkästen, die Taubenschläge unterm Dach, den Fußballplatz am Sonntag und die Stammkneipe an der Ecke. Jakob – ein' Korn und 'n Pils! Die Jungs haben heute wieder gespielt, was? Vier zu eins! Und der Tuballek kann trippeln, wat! Der haut se alle vom Feld …
Egon Schliemann wischte sich über die Augen.
»Das alte Lied, Franz, du kennst es ja. Im Oderbruch kriegten se mich. Weil ich Funker war – Verurteilung zum Tode wegen Mithilfe am Völkerkrieg. Dann zu ›Lebenslänglich‹ begnadigt. Zehn Jahre hab' ich geschrieben, immer an Mutter. Nie kam 'ne Antwort. Weiß ja keiner, ob die Briefe überhaupt angekommen sind. Dann plötzlich – 1955 – wurden die meisten von uns entlassen, in die Heimat hieß es. Jeden Tag wurden Namen aufgerufen, nur meiner nicht. Und dann war auch das vorbei. Sind die Kameraden angekommen in der Heimat?«
»Ja«, sagte Semjonow kurz.
»Zu uns kamen ein Jahr später politische Funktionäre und Wirtschaftsexperten. ›Ihr seid frei‹, sagten sie. ›Ihr könnt euch frei bewegen, eine Stellung annehmen oder sonst was tun. Wir gliedern euch in den Produktionsprozeß ein. Ihr seid gleichberechtigte Sowjetbürger.‹ Und so war's. Das Lager wurde aufgelöst, aus den Baracken wurde eine Sowchose, die Zäune fielen. Viele von uns arbeiteten in der Stadt in Sägewerken, andere machten eine Landwirtschaft auf und züchteten Hühner. Wir haben einen Kumpel, der hat jetzt zweitausend Hühner und liefert Eier bis nach Jakutsk. Tja, so ist das … Wir sind frei, Kumpel … keine Plennys mehr … Nur zurück in die Heimat können wir nicht …«
»Und du?« fragte Semjonow gepreßt den anderen, einen Mann mit weißen Haaren, der älter aussah, als er war.
»Ich bin Willi Haffner. Aus Monschau in der Eifel. Maurer.«
»Und ick heeße Kurt Wancke. Wo ick herkomme, is ja woll klar. Ick war Buchhalter bei Siemens. Jetzt führe ick die Bücher der Produktionsgenossenschaft Munaska.«
»Das hier ist also der
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