Lieblingslied: Roman (German Edition)
wurde mir allmählich klar, was Großvater mir mit seiner Geschichte über das KZ Mauthausen sagen wollte.
Die schönsten Dinge im Leben hängen gewöhnlich direkt unter unserer Nase . Das war der Schlüsselsatz gewesen.
In seinen Tagebüchern und als er die Geschichte in Annas Krankenzimmer erzählt hatte, beschrieb er einen besonderen Satz als die schönsten Worte, die er je im Leben gehört habe. Anna hatte dieselben Worte in ihrem letzten Brief an mich geschrieben – drei einfache Worte, mit einer alles andere als schlichten Wirkung: Ich verzeihe Dir .
Der Gedanke, Ashley Moore zu vergeben, erschien mir allerdings völlig abwegig, einfach absurd. Und doch wusste ich, dass Großvater genau das von mir erwartete. »Ich weiß nicht«, musste ich zugeben. »Als ich sie zuletzt gesehen habe, stand sie auf ihrer Veranda – und ich habe sie nach allen Regeln der Kunst beschimpft.«
»Tja … wir machen alle Fehler.«
Ich war nicht sicher, ob er damit sie oder mich meinte.
»Hast du herausgefunden, weshalb ich dir das mit Mauthausen erzählen musste?«
»Ja.«
»Und?«
»Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich weiß nicht, ob ich es überhaupt will.«
»Es ist nicht leicht, so viel ist sicher. Aber da ich Erfahrung mit Fehlern sowohl als Opfer als auch als Täter hatte, weiß ich, dass nur Vergebung die Wunden heilt.«
Sicher glaubte er, dass mir das die Erleuchtung bringen würde. Aber er täuschte sich. Meine Haltung gegenüber Ashley war unverändert feindselig. Um weitere Diskussionen zu vermeiden, wechselte ich hastig das Thema. »Okay, ich denke darüber nach. Aber im Moment muss ich noch eine Menge Leute anrufen. Bitte sag du der Familie Bescheid, ja?«
»Natürlich. Ich komme in ein paar Tagen nach Kalifornien und bringe alle mit, die sich von Anna verabschieden möchten.«
»Guten Morgen, Dad«, sagte in diesem Moment eine strahlende Hope. Ich hatte gerade aufgelegt. Meine Tochter saß aufrecht im zweiten Bett in Annas Krankenzimmer. Vor meinem Anruf bei Großvater Bright hatte sie noch tief und fest geschlafen. Ich hoffte nur, dass sie den letzten Teil des Telefonats nicht gehört hatte.
»Guten Morgen. Gut geschlafen?«
»Ja. War das Urgroßvater am Telefon?«
»Ja.«
Sie schlug die Decke zurück und glitt aus dem Bett. »Wer ist Ashley?«, fragte sie wie beiläufig, als sie zu Annas Bett ging und ihre Hand nahm.
Die hirnlose Referendarin, die deine Klasse unterrichtet . »Hm, jemand, der etwas sehr Schlimmes getan hat.«
»Was getan hat?«
»Das tut nichts zur Sache, Häschen. Mach dir darüber keine Gedanken.«
Hope ließ Annas Hand los und stellte sich vor meinen Liegesessel. »Hat sie sich entschuldigt?«
»Ja.«
»Mami sagt, wenn man sich entschuldigt, muss man auch vergeben können.«
Ich zog sie an mich und blickte über ihre Schulter auf die leblose Hülle meiner Frau. »Ich wünschte, es wäre so einfach. Wirklich.«
»Ist es aber«, entgegnete sie. »Sagt Mami.«
28
AM DRITTEN TAG vor dem entscheidenden Tag, verließen Hope und ich gegen Mittag das Krankenhaus. Wir fuhren nach Hause, um uns frisch zu machen. Außerdem nutzte ich die Zeit, Dinge zu erledigen, die während meiner langen Abwesenheit liegen geblieben waren: Einkäufe tätigen, Post durchsehen, Rechnungen bezahlen. Hope bestand darauf, am Abend zu Anna zurückzukehren, denn: »Mami hat nur noch wenige Nächte vor sich. Da sollte sie nicht allein schlafen müssen.«
Wer wollte dem widersprechen?
Später am Abend, als ich Hope in ihrem Krankenhausbett zudeckte, stellte sie eine Frage, die mich völlig unerwartet traf: »Betest du vor dem Schlafengehen?«
Ich fragte mich kurz, ob das eines jener seltenen Augenblicke im Leben war, in dem man seinem Kind eine kleine Lüge erzählen sollte, um den Status eines Vorbilds nicht zu verlieren. Dann kam mir eine Lüge über Gebete zu Gott riskant vor – so plausibel sie auch sein mochte. In Wahrheit hatte ich nämlich an dem Tag zu beten aufgehört, als wir Hopes Zwillingsschwester Faith verloren. »Eigentlich nicht«, gestand ich vorsichtig. »Betest du?« Es machte mich traurig, dass ich so wenig über meine Tochter wusste.
»Manchmal.«
»Fragst du, weil du mit mir zusammen beten möchtest? Wenn du willst, können wir das gern tun.«
»Nein. Ich habe nur gedacht, dass es vielleicht hilft, wenn du für Mami betest. Seit dem Unfall habe ich jeden Abend für sie gebetet. Aber ich glaube, es hat nicht funktioniert.«
»Hm. Tja, das kommt vor. Wir beten für das, was
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