Lieblingsmomente: Roman
Teilen der Welt gewesen zu sein und dann mit vielen Erinnerungen im Gepäck und Bildern auf der Festplatte wieder genau hier zu stehen. Ich hatte diesen Traum schon immer, und er hat nichts mit Tristan zu tun.
Andererseits hat alles mit Tristan zu tun. Vor allem der Wunsch, hierzubleiben. Ich kann seinen Kuss noch immer auf meinen Lippen spüren, weiß noch, wie es sich angefühlt hat, als er mich an sich gezogen hat. Ich kann jetzt nicht weg. Oder?
Mein Blick fällt auf mein Lieblingsbild. Meine Großmutter hat einmal gesagt, dass wir alle unsere Träume ewig mit uns tragen, und nur wir können entscheiden, ob wir sie in Erfüllung gehen lassen oder ob wir sie unerfüllt mit ins Grab nehmen. Mit Oliver habe ich andere Träume in Erfüllung gehen lassen, habe Dinge erlebt, die ich genossen habe und nicht vergessen werde. Ich habe gerne mit ihm zusammengelebt. Nur leider war er nicht der Richtige, um auch die anderen großen Träume in Erfüllung gehen zu lassen.
Alles hat seinen Preis. Ich höre jetzt schon meine Eltern und Freunde sagen, dass es Wahnsinn ist, diese Beziehung zu beenden. Wer weiß, vielleicht haben sie sogar recht. Aber ich will nicht eines Tages in der fernen Zukunft mit meinen unerfüllten Träumen zu Grabe getragen werden. Ich will sie erfüllen.
Ich könnte auch jetzt gleich damit anfangen. Später ist es vielleicht zu spät. Ich entscheide mich hier und jetzt für mich. Vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben. Die Reisetasche ist doch ohnehin gepackt. Mein Reisepass ist gültig, meine Impfungen auf dem neuesten Stand. Und den Urlaub genehmige ich mir einfach selbst.
Ich schalte den Rechner an, nehme auf meinem Bürostuhl Platz und logge mich auf der Homepage des Reisebüros meines Vertrauens ein. Schnell checke ich die Ziele, die mir als Erstes in den Sinn kommen. Ich brauche nur eine Tasche, meinen Laptop, meine Kamera und viel Geld.
Ich atme langsam ein, dann wieder aus. Geld.
Geld bekommt man für Aufträge. Aufträge bekommt man durch Können und Beziehungen. Marco hat mir schon vor zwei Tagen eine E-Mail mit dem Betreff »Deine Fotos« geschickt.
Ich habe die E-Mail noch nicht angesehen, weil mir ihr Inhalt viel zu viel Angst gemacht hat. Aber jetzt klicke ich ihn an, und Marcos Nachricht füllt meinen Bildschirm gänzlich aus.
Betreff: Deine Fotos
Hallo Layla,
ich habe gleich zwei gute Nachrichten für dich.
Erstens will der Freund, von dem ich dir erzählt habe, deine Stuttgart-Fotos tatsächlich ausstellen. Er war von der Serie ganz begeistert und würde dir im Dezember gerne eine eigene Ausstellung im Café Galao geben. Was sagst du? Großartig, oder? Deine Fotos habe ich ja inzwischen alle. Fehlt nur noch dein Ja. Was sagst du?
Außerdem ich habe – nimm es mir bitte nicht übel – einem anderen sehr guten Freund und großem Förderer der Künste deine Stuttgart-Fotos und die Fotos von den beiden Konzertabenden gezeigt. Er ist ebenfalls schwer beeindruckt. Er will eine Ausstellung mit deinen Fotos machen plus eigenem Fotokatalog. Hast du schon was Neues in der Schublade? Das dürfte dann nämlich gleich im neuen Jahr an die Wände seiner wirklich sehr renommierten Galerie. (Ich habe dort meine ersten großen Schritte gemacht und kann dir nur empfehlen, es mir nachzumachen.) Und: Das Honorar solltest du dir wirklich auf der Zunge zergehen lassen. Es steht in dem PS-Teil, damit du jetzt nicht hyperventilierst.
Melde dich bei mir.
Liebste Grüße,
Marco
Ich starre auf die Zahl am Ende der E-Mail. Sie würde mir diese Reise ohne Probleme finanzieren, da ich ohnehin nicht vorhabe, in teuren Hotels zu nächtigen. Bevor mein Gehirn reagieren kann, tippen meine Finger schnell eine Antwort und der Cursor drückt auf SENDEN. Ich kann es nicht mehr ändern. Mein Herz pocht wie wild. Ich habe das Angebot angenommen und schon vor Reiseantritt die Fotos, die ich schießen werde, an eine Galerie verkauft. Wenn das mal kein Zeichen ist! Ich kann nur noch hoffen, dass dieser ominöse Förderer der Künste auch Lust auf Fotos aus der ganzen Welt hat und nicht erwartet, dass ich ihm weitere Stuttgart- oder Konzert-Fotos schicke. Aber irgendetwas wird mir dann schon einfallen.
Zurück auf dem Portal des Reisebüros lasse ich mir eine individuelle Reiseroute planen, schaue mir Unterkünfte und Preise an. In weniger als zwei Stunden habe ich mich entschieden und muss nur noch auf BUCHEN drücken. Ein knappes halbes Jahr wäre ich weg aus Stuttgart, weg aus diesem Büro, von meinen
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