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Lied aus der Vergangenheit

Lied aus der Vergangenheit

Titel: Lied aus der Vergangenheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: A Forna
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sagt er sich. Andererseits war da dieses Gefühl, dieses hartnäckige Gefühl. Wie sehr sie sich in vielerlei Hinsicht ähnelten, Kai und Mamakay, wirklich wie Geschwister. Wie sie beide eisern nur in der Gegenwart wohnten, alle Türen verschlossen hielten, nur das zeigten, was sie offenbaren wollten. Sowohl Kai als auch Mamakay besaßen besondere Orte, von denen alle anderen ausgeschlossen waren, von denen auch Adrian ausgeschlossen war. Gerade in diesem Moment schlingt sich die Angst um sein Herz, in diesen abgeschlossenen Räumen könnte sich etwas befinden, das die beiden aus ihrer Vergangenheit herübergerettet haben, einen Bogen der Empfindung, unvollendet, ohne den Schlussstein.
    Ist es richtig, was er tut? Mitunter hat er das Gefühl, den Verstand zu verlieren.
    »Verdammt!« Ein Holzsplitter schiebt sich unter den Nagel seines Zeigefingers. Ein nadelspitzer, köstlicher Schmerz. Adrian drückt auf den Fingernagel und saugt dann an der Fingerspitze. Der Himmel hat einen schwefligen Farbton; am Horizont brodeln dunkle Wolken. Adrian hat einen Geschmack von Blut und Eisen im Mund. Ein Regentropfen berührt seine Haut, dann ein weiterer. Nach wenigen Augenblicken ist der Sand stumpf, sind die Kiesel blank. Adrian sammelt sein Werkzeug zusammen und geht ins Haus.
    Unter der Dusche vor dem Abendessen, heißes Wasser prasselt ihm schwer auf die Schultern. Bei solchen Gelegenheiten denkt er an sie. Angesichts der Hitze im Badezimmer könnte er auch in ihrer Wohnung sein. Er spürt die Reaktion seines Körpers, richtet das Gesicht nach oben in den Wasserstrahl, hält den Atem an. Im Geist sieht er, wie sie auf ihn zukommt. Was tut sie? Kurze Zeit später lässt er die Arme wieder an seine Seite fallen, schaut zu, wie der Samen mit dem Wasser verstrudelt und abfließt. Die äußere Anspannung ist kurzzeitig verflogen, die Sehnsucht im Inneren bleibt.
    Das Lokal ist eher ein Restaurant als ein Pub, ineinandergehende Speiseräume, gefliester Fußboden und grün gestrichene Holztäfelung. An der Wand ihm gegenüber hängt das Porträt einer in schattiges Gartenzimmerlicht getauchten Frau, die Virginia Woolf sein könnte. Er beobachtet seine Mutter, während sie durch ihre Brille die Speisekarte studiert. Sie hat sich für den Anlass fein gemacht, hat ihre Cordsachen gegen eine Samthose und eine Samtbluse eingetauscht. An der Tür hat ein Mann, der Restaurantbesitzer, sie, wie Adrian fand, mit einer gewissen Vertraulichkeit begrüßt. Es bereitet Adrian Schwierigkeiten, sich seine Mutter als Gast dieses Lokals vorzustellen. Mit wem kommt sie hierher? Wer sind hier ihre Freunde? Er reißt sich zusammen. Die gleiche Herausforderung für jeden von uns, denkt er, unsere Eltern aus der Gefangenschaft unserer Vorstellung zu entlassen. Er richtet den Blick auf die Speisekarte.
    Seine Mutter bestellt selbstsicher, Adrian weniger, verwirrt durch die große Auswahl. Am Ende schließt er sich ihrer Wahl an, überlegt es sich noch einmal anders und bestellt Krebse aus der Region, gefolgt von Ente. Er führt mehrmals das Glas an die Lippen. Wenn er ehrlich sein soll, fühlt er sich leicht der Wirklichkeit entrückt. Mamakay, Ileana, die Säle voller angeketteter Männer, alle da, wo er sie zurückgelassen hat. Er denkt an Adecali und fragt sich, ob seine Albträume ihn noch immer verfolgen, ob er daran denkt zu üben, sich an seinen besonderen Ort zurückzuziehen. Üben, üben, üben, hat Adrian ihm vor seiner Abreise eingeschärft. Die Kontrolle über den eigenen Geist behalten. Die Gruppensitzungen sollten auch ohne ihn fortgesetzt werden, die Fußballspiele mussten allerdings ausfallen.
    Was er an seiner Mutter schätzt, jetzt, wo er darüber nachdenkt, ist die Tatsache, dass er, wenn er möchte, mit ihr über solche Dinge reden kann. Nie hat er bei ihr das Gefühl, seine Arbeit, seine Beschäftigung mit der dunkleren Seite des menschlichen Lebens, sei etwas, was er für sich behalten müsse, als gehörten sich solche Gesprächsthemen in feiner Gesellschaft nicht, als passten sie nicht zu Ziegenkäse und Gressingham-Ente.
    Ihm wird außerdem bewusst, dass ihm das alles nichts bedeutet. Restaurants wie dieses, erlesene Weine, er weiß sie noch immer zu schätzen, aber irgendwie hatten sie im Lauf des letzten Jahres jede Bedeutung verloren.
    Ein älteres Ehepaar durchquert den Speisesaal, der Mann vielsagend zitternd. Adrian spürt, wie sich sein Herz verkrampft. Er wirft seiner Mutter einen Blick zu und sieht, dass sie ihn

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