Life - Richards, K: Life - Life
er keine Steuern gezahlt hatte, andererseits weil wir es sowieso ausgaben. Anfang der Siebziger lag der Spitzensteuersatz in England bei 83 Prozent, für Investitionen, und für das sogenannte »unverdiente Einkommen« sogar bei bis zu 98 Prozent. Eine ziemlich unverblümte Aufforderung, das Land zu verlassen.
Hier muss ich Rupert Loewenstein Respekt zollen. Er tüftelte eine Möglichkeit aus, unseren Schuldenberg hinter uns zu lassen. Und wie? Indem wir unseren Wohnsitz aufgaben. Nur so konnten wir unsere Finanzen in Ordnung bringen.
Damit hatte die Obrigkeit wohl am allerwenigsten gerechnet, als sie uns mit ihrer Wahnsinnssteuer belegte. Wir sagten einfach: In Ordnung, dann hauen wir eben ab. Dann schließen wir uns den Heerscharen an, die auch keine Steuern zahlen. Diese Option hatten sie nicht mit einberechnet. Und wir wurden größer denn je. Exile on Main St. entstand dabei, vielleicht das Beste, was uns je gelungen ist. Das schaffen die nicht, dachte sich die Gegenseite, fern der Heimat können die nicht weitermachen wie bisher. Ganz
ehrlich: Wir waren uns da auch nicht so sicher. Wir wussten nicht, ob es klappen würde, aber wir mussten es versuchen. Was war die Alternative? In England bleiben und zusehen, wie wir von jedem verdienten Pfund einen Penny behalten durften? Nein, die würden uns nicht den Laden dichtmachen. Also packten wir unsere Sachen und gingen nach Frankreich.
Bild 7
© Dominique Tarlé
KAPITEL 8
In dem wir im Frühjahr 1971 nach Frankreich abhauen und ich eine Villa an der Riviera miete - Nellcôte. Micks Heirat in Saint-Tropez. Mit unserem mobilen Studiotruck nehmen wir Exile on Main St. auf und gewöhnen uns an einen straffen Rhythmus produktiver Nachtsessions. Mit der Mandrax zum Frühstück nach Italien. Ich komme immer besser mit der fünfsaitigen Gitarre klar. Gram Parsons schaut vorbei, und Mick entwickelt eine besitzergreifende Ader. Bei der Arbeit schotte ich mich mit Hilfe von Drogen ab, ehe wir erneut hochgenommen werden. Ein letztes Mal mit Gram abhängen, in L. A., wo ich auf zweitklassigen Stoff komme. Flucht in die Schweiz mit Anita, der Horror des kalten Entzugs. Während ich mich erhole, komponiere ich »Angie«.
S o lässt sich das Exil aushalten, dachte ich mir, als ich Nellcôte zum ersten Mal sah. Ein unglaubliches Haus, direkt am Fuß des Cap Ferrat, mit einem schönen Blick auf die Bucht von Villefranche. Ein englischer Bankier hatte es gebaut, Ende des neunzehnten Jahrhunderts. Der Garten war riesig, wenn auch etwas verwildert, und wurde von imposanten Eisentoren beschützt. Fantastische Proportionen. War man morgens nicht ganz auf dem Damm, lief man einfach durch dieses Glitzerschloss, und
schon war alles wieder in Ordnung. Man fühlte sich wie in einem Spiegelsaal - sechs Meter hohe Decken, Marmorsäulen, weitläufige Treppen. Beim Aufwachen dachte ich mir immer: Und das soll mein Haus sein? Beziehungsweise: Endlich ist es so, wie es sein sollte. Wurde auch Zeit. Nach unserem abgewrackten Heimatland fanden wir diese Pracht nur angemessen. Außerdem hatten wir nun mal beschlossen, ins Ausland zu gehen, und da war Nellcôte doch der ideale Ort. Wir waren ewig auf Tour gewesen, und im Vergleich mit dem Holiday Inn schnitt meine Villa um einige Klassen besser ab. Nach all den vielen Strapazen in England fühlte sich jeder von uns regelrecht befreit.
Aufnehmen wollten wir in Nellcôte eigentlich nicht. Wir wollten uns nach einem Studio in Nizza oder Cannes umschauen, trotz der vielen logistischen Hindernisse. Charlie Watts hatte sich im Departement Vaucluse eingenistet, mehrere Autostunden von uns entfernt, Bill Wyman lebte im Hügelland in der Nähe von Grasse. Dort freundete er sich bald mit Marc Chagall an. Ausgerechnet Marc Chagall. Bill Wyman und Marc Chagall, das schrägste Pärchen der Menschheitsgeschichte! Na ja, als guter Nachbar schaut man schon mal auf eine Tasse von Bills abscheulichem Tee vorbei. Mick hauste zunächst im Hotel Byblos in Saint-Tropez; nach seiner Hochzeit mietete er ein Haus von Prinz Rainiers Onkel, später dann das Haus einer gewissen Madame Tolstoi. Er war voll und ganz im Reich des Eurotrash angekommen, während seine Gastgeber ihrerseits den white trash kennenlernten. Aber hier wurden wir wenigstens mit offenen Armen empfangen.
Zu den vielen Vorzügen von Nellcôte zählte ein Steg, der über eine kleine Treppe mit dem Haus verbunden war. Vor diesem Steg lag bald die Mandrax 2 , ein sechs Meter langes
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